Das Diamantenmädchen (German Edition)
auch noch Photos von den größten Schleifereien Europas in Antwerpen schicken lassen. Die Werkzeuge und das Schleifen selbst hatte sie in Pauls Atelier photographieren können. Jetzt hatte sie angefangen, sich mit den Ursprungsländern der Rohdiamanten auseinanderzusetzen, nicht zuletzt, weil sie durch diesen seltsamen Mord so direkt damit konfrontiert worden war. Sie hatte einen ganzen Tag in der Preußischen Staatsbibliothek verbracht und sich von mürrischen Bibliothekaren alles bringen lassen, was mit Diamanten zu tun hatte. Im großen Innenhof der Bibliothek, am Rand des bereits leeren Brunnens unter den völlig von Efeu überwachsenen Mauern, hatte sie in der mittäglichen Oktobersonne gesessen und über die indischen Minen gelesen. Manche Geschichten hatte sie wiedererkannt: Paul oder sein Großvater hatten sie ihr vor Jahren erzählt. Viel interessanter aber und auch viel aktueller waren die Unterlagen der Kolonialbehörden über die Diamantenfunde in Afrika. Lilli hatte mit immer größerem Staunen gelesen, welch ungeheure Reichtümer in der kurzen Zeit der deutschen Kolonien ins Reich gekommen waren. Und im Zuge dessen stieß sie auf einen Namen, der ihr Interesse erregte. Nicht so weit von Lüderitz entfernt gab es in Deutsch-Südwest einen Ort, der Kolmannskuppe hieß. Nur der Vollständigkeit halber hatte Lilli sich dann die Bände des Statistischen Jahrbuchs des Reichs bringen lassen und dort die Zahlen zu den deutschen Kolonien und besonders zu Kolmannskuppe nachgeschlagen. Bei der Durchsicht begann sie allmählich zu ahnen, was der Verlust der Kolonien nach dem Krieg für Deutschland bedeutet hatte. Und auch, in welcher Größenordnung sich die geheimen Geschäfte des Staatssekretärs von Schubert bewegten. Kolmannskuppe war vor zwanzig Jahren wie aus dem Nichts entstanden. Die Diamanten mussten dort praktisch im Sand herumgelegen sein. Ein Jahr später hatte das deutsche Dorf Kolmannskuppe bereits einen Anteil von zwanzig Prozent an der Weltproduktion der Diamanten. Siebzigtausend Karat wurden dort gefunden. Nicht jährlich. Monatlich. Allerdings war Kolmannskuppe wie ganz Deutsch-Südwest 1915 schon an die Briten gefallen. Aus schierer Neugier hatte Lilli sich dann angesehen, wie viele Diamanten Kolmannskuppe unter britischer Herrschaft gefördert hatte. Und da hatte sie gestutzt. Zwischen 1915 und 1916 waren die Förderzahlen deutlich gesunken. Das war durch das Durcheinander der neuen Regierung und durch die Kriegswirren erklärbar. Danach stiegen die Zahlen unter den neuen britischen Fördergesellschaften wieder auf den alten Stand. Bis im Jahr 1920 im November und Dezember die Förderung plötzlich um fast zwanzig Prozent eingebrochen war. Lilli hatte kurz überschlagen: Das bedeutete ungefähr fünfzehntausend Karat, die bei der monatlichen Produktion durch die britischen Firmen damals gefehlt hatten. Vielleicht hatten sich einfach kurzzeitig die Minen erschöpft? Aber dagegen sprachen die sonst so konstanten Zahlen. Soviel sie auch im gesamten Ullsteinarchiv recherchiert hatte – es hatte in der Zeit keinen Aufstand der afrikanischen Arbeiter gegeben, keine Kriege, keine Brände oder Naturkatastrophen. Der Einbruch um Weihnachten 1920 blieb rätselhaft.
Lilli ordnete ihre Notizen auf dem Schreibtisch in geometrischen Mustern. Es half ihr, die Zettel mit ihren Ideen hin- und herzuschieben. So konnte sie die Struktur ihrer Artikel besser aufbauen. Aber eigentlich ging es ihr ja diesmal nicht in erster Linie um ihren Artikel. Sie versuchte zu verstehen, was um Paul herum vor sich ging. Von Schubert beauftragte ihn, sozusagen schwarze Diamanten zu schleifen, und fast gleichzeitig geschah ein Mord, in dem Diamanten eine Rolle spielten. Sie lehnte sich in ihrem hölzernen Sessel zurück und stieß mit ihrem Bleistift immer wieder gedankenverloren den Tintenlöscher an, dass er hin und her schaukelte. Dann fasste sie spontan einen Entschluss, beugte sich vor, griff nach dem Telephon und wählte eine Nummer, die sie aus dem Stapel der Visitenkärtchen auf ihrem Schreibtisch herausgesucht hatte.
»Kornfeld«, meldete sie sich, als am anderen Ende abgenommen wurde, »ich hätte gerne Herrn Kriminalkommissar Schambacher gesprochen.«
21
Schambacher saß am Schreibtisch und machte widerwillig das, was er an diesem Beruf am meisten hasste: die Spesenaufstellung für die Kasse. Droschkenquittungen. Telephonkosten für die öffentlichen Fernsprecher. Kosten für Auskünfte bei den anderen Ämtern, die
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