Das Diamantenmädchen (German Edition)
Schambacher blitzte ein verlockender Gedanke auf. Wenn sie den Fall tatsächlich zu den Akten legten, würde das keinen Menschen interessieren. Es war wirklich nur ein Schwarzer. Und es würde seine Probleme auf einen Schlag lösen: Lilli wäre keine Zeugin mehr und van der Laan … tja. Van der Laan wäre dann ein Mörder, der frei herumlief. Für einen Augenblick dachte er daran, wie viele Mörder frei herumliefen. Der Eisnerattentäter Graf Arco Valley zum Beispiel. Oder die Männer von der Organisation Consul. Ein, zwei Jahre, dann waren sie draußen. Was machte es für einen Unterschied? Und Eisner war immerhin ein Deutscher gewesen, wenn auch Sozialist. Schweigend ging er neben Togotzes die Treppe hinunter.
Aber dann, als sie aus dem Präsidium kamen und in den Regen traten und zum Auto rannten, blieb er auf einmal stehen und sagte:
»Nein. Es ist nicht in Ordnung. Und auch wenn es nicht zum Prozess kommt oder wenn er nur zwei Jahre kriegt, dann ist das eben so. Aber wir wissen, wer es war, und wir nageln ihn fest. Das ist unser Beruf.«
Auf Togotzes Hut prasselte es, aber er blieb auch stehen und sah Schambacher scharf an. Plötzlich hob er in komischer Resignation die Hände und wandte sich zum Auto.
»Na gut«, sagte er leichthin, »dann lass uns mal van der Laan besuchen.«
Als Schambacher einstieg, dachte er noch einmal an Lilli und fragte sich, ob er das Richtige getan hatte. Aber dann fuhren sie schon los. Es regnete so stark, dass die Scheibenwischer nicht nachkamen, und es war, als sei er zusammen mit Togotzes von der Welt abgeschlossen, und es hätte auch eine ganz fremde Stadt sein können, durch die sie fuhren, eine fremde Stadt, in der andere Gesetze galten und es vollkommen unwichtig war, was sie beide taten.
25
Es war gestern schon ein verregneter, herbstlich dunkler Abend gewesen, aber an diesem Tag wirkte Berlin womöglich noch unfreundlicher. Ein feiner Dunst hing zwischen den Häusern, der Himmel war tiefgrau bewölkt, und nach den Wolkenbrüchen am Vormittag nieselte es jetzt ohne Unterlass. Man wurde nicht sofort nass, wenn man aus dem Haus ging, aber Kälte und Feuchtigkeit setzten sich in allen Falten fest und drangen nach und nach in die Knochen. Lilli fröstelte auf dem Weg zu ihrer Verabredung mit Paul. Es war nicht nur die Kälte. Sie war auch aufgeregt. Sie merkte es beim Atmen – es war, als wären alle Muskeln unbewusst die ganze Zeit angespannt, sodass sie nun unmerklich zu zittern begannen. Sie holte tief Luft. Paul hatte sie vorhin angerufen und gebeten, nicht zu ihm nach Hause zu kommen. Er hatte vorgeschlagen, sich stattdessen im Naturkundemuseum zu treffen.
Sie hastete über den Winterfeldtplatz. Es war Markttag, und von den Schirmen triefte es auf erdige Kartoffeln und Karotten. Frierende Bäuerinnen putzten mit riesigen Sacktüchern ihre roten Nasen und waren zu den Kunden noch unfreundlicher als sonst. Ein Päderastenpärchen, in schreiendem Gegensatz zu dem bäuerlichen Leben ringsum in elegante dunkelgraue Zweireiher gekleidet, ging Hand in Hand über den Markt und scherte sich nicht um einen SA-Mann, der sich eben mit einer Brotfrau unterhielt und angewidert vor den beiden ausspuckte. Mehr traute er sich nicht; hier um den Nollendorfplatz gab es viele Päderasten und wenig SA, und er war offensichtlich allein – das Büro der NSDAP lag in der Potsdamer Straße, und da war es ein Stück hin.
In der Nacht, dachte Lilli, sahen die Dinge immer anders aus, aber am Morgen, nachdem Schambacher gegangen war, hatte sie wach gelegen, und es war, als sei sie allmählich nüchtern geworden. Sie musste wirklich mit Paul reden. Schambacher hatte sie gewarnt, aber sie musste wissen, wie es gekommen war, dass er sich so verändert hatte. Sie konnte nicht glauben, dass Paul ihr gefährlich werden könnte. Und dann … vielleicht war ja auch alles ganz anders gewesen. Vielleicht hatte er den Schwarzen ja nur in Notwehr getötet. Vielleicht war er erpresst worden. Sie wusste ja überhaupt nichts Näheres. Für Schambacher wirkte das alles natürlich wie ein einfacher Mord. Aber er kannte ja Paul auch nicht.
Als sie am Nollendorfplatz in der Hochbahnstation auf die Bahn wartete, warf sie einen Blick zum Theater hinüber. Schambacher hatte ihr erzählt, wo sie die Leiche gefunden hatten, und Lilli versuchte sich vorzustellen, wie Paul den Schwarzen auf den Balkon gerollt und dann im Regen liegen gelassen hatte, aber das Bild wollte nicht wahr werden. Vielleicht war sie auch nur
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