Das Disney World Komplott
Meer entfernt zu stehen. Blaine konnte sich vorstellen, daß Harry die Geräuschkulisse und die Gerüche des Ozeans als Labsal für die Seele empfand.
Als nichts geschah, nachdem McCracken mehrmals den Klingelknopf betätigt hatte, drückte er zwei andere Klingeln, und ihm wurde, wie erwartet, ohne Umstände geöffnet. Er hatte die SIG-Sauer unter einem weiten, um die Taille herum schon fadenscheinigen Leinenhemd umgeschnallt; das war nicht seine Lieblingsart, eine Waffe zu verstecken, sondern ein Kompromiß, zu dem ihn Key Wests Temperatur von 38° nötigte.
An der Wohnungstür läutete Blaine erneut einige Male und klopfte, aber wieder ohne Erfolg. Er hielt es für denkbar, daß Harry in der Wohnung, Apartment 1A, seinen Rausch ausschlief, oder daß die Kopfhörer eines Computerspiels seine Aufmerksamkeit ablenkten. Blaine seufzte und ging mit den Drähten, die er immer dabei hatte, ans Knacken der Schlösser. Für das Sicherheitsschloß brauchte er dreißig Sekunden, für das Türschloß nicht einmal die Hälfte. Obwohl beides Schlage-Fabrikate waren, das beste auf dem Markt, forderten sie einem echten Profi nur wenige Sekunden Mehrarbeit ab.
»Harry«, rief McCracken, als er die Wohnung betrat. »Harry?«
Blaine bekam keine Antwort, er ging weiter. Das Wohnzimmer machte einen ordentlichen, sauberen Eindruck, angesichts der im allgemeinen ungepflegten Erscheinung Harrys eine Überraschung. Noch verwunderlicher war allerdings die völlige Kahlheit der Wände. McCracken hatte erwartet, sie mit allerlei Postern, Fotos und Andenken vollgehängt zu sehen – ein Zustand, wie er in Harrys stets etwas wirrem Hirn herrschen mochte.
Auch in der Küche war keine Spur von Harry. Blaine besah sich das auf dem Küchentisch stehende Faxgerät. Es erstaunte ihn nicht, daß es kein Papier enthielt. Er warf einen Blick in die beiden Zimmer. Harrys Schlafzimmer wirkte schlicht und konservativ, wiederum gänzlich anders, als Blaine es sich vorgestellt hatte; er fand dort ein unbenutztes, säuberlich gemachtes Bett vor. In den Schubladen der Kommode lag penibel aufgestapelte, sortierte Wäsche, hinter den Türen des Kleiderschranks hing Harrys spärliche Garderobe, überwiegend Blumenhemden und weite Hosen.
Nach einem kurzen Abstecher ins Bad besah sich McCracken das zweite Zimmer. Bis auf einige wenige Möbelstücke stand es leer. Falls Harry tatsächlich einen Sohn hatte, mußte hier sein Schlafzimmer gewesen sein. Es hätten Poster an den Wänden, ein Kinder- oder Jugendbett und ein Schülerschreibtisch da sein müssen. Und Platz für einen Computer.
Nichts dergleichen war vorhanden. Nur Möbel, die niemand benutzte, und ein paar Kisten, die auszupacken Harry anscheinend keine Zeit gehabt hatte. Wie lange wohnte er schon hier und arbeitete für die Nachfolgerin der Air America? Diese Frage war gestern ungeklärt geblieben.
Blaine ging noch einmal durch die ganze Wohnung. Aus irgendeinem Grund lief es ihm hier kalt über den Rücken. Die Zimmer bereiteten ihm ein ungemütliches Gefühl, sie waren viel zu steril. Sogar der Teppichboden war gründlich gesaugt worden – man konnte auf dem Grau noch die Streifen des Saugers erkennen.
Vielleicht um verräterische Fußabdrücke und die Spuren eines Handgemenges zu vertuschen.
Warum denke ich an so etwas?
Überhaupt nichts rechtfertigte einen derartigen Verdacht; wahrscheinlich kam es in so mancher Nacht vor, daß Harry Lime nicht nach Hause fand, egal wo er sein Zuhause haben mochte.
McCracken setzte sich im Wohnzimmer auf die weiße Couch und holte das vierseitige psychologische Gutachten über Harry Lime aus der Tasche, das ihm Sal Belamo heute ins Hotel gefaxt hatte. Das Resümee lief weitgehend auf das hinaus, was er schon befürchtet hatte: Harry Lime hatte einen knallharten Defekt und war eigentlich nur bei Verstand, wenn er in der Luft sein durfte. Im Flugzeug bewährte er sich als der beste Pilot, den man sich wünschen konnte, doch außerhalb der Flugkanzel hatte er selten einen klaren Begriff von der Wirklichkeit.
So lautete, obwohl es darin noch mehr zu lesen gab, die Kernaussage des Gutachtens. Wahrscheinlich hätte man Harry längst den Pilotenschein entzogen, wäre seine Begabung als Flieger nicht dermaßen wertvoll gewesen. Für die Air-America-Nachfolgerin war er schlichtweg der ideale Mitarbeiter. Leistungsfähig und unbedingt verläßlich bei der Ausführung eines Auftrags; gleichzeitig konnte man den Umgang mit ihm leicht leugnen und ihn vergessen,
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