Das Dorf der Mörder
trat blitzschnell zu Cara und griff mit seiner freien Hand an ihre Kehle. Er präsentierte Jeremy ihr verzerrtes Gesicht wie eine Trophäe. »Aber sie … sie! Sie konnte ja nicht allein bleiben! Sie war ja noch so klein! Charlie hat sich geweigert. Wegen ihr! Wegen diesem …diesem …« Er stieß Cara von sich. Sie stolperte ein paar Schritte und konnte sich nur noch mühsam auf den Beinen halten.
»Es tut mir so leid«, wimmerte sie. »Marten … bitte …«
»Hör mir auf mit dem Geflenne.« Er hob den Stock und trieb seine beiden Gefangenen weiter wie bockige Schafe.
»Ich verstehe Sie trotzdem nicht«, fuhr Jeremy fort und drehte sich im Laufen nach Marten um. Der Mann musste reden. Er hatte das wohl noch nie getan. Vielleicht veränderten sich sein Hass und seine Wut, wenn er alles herausschreien konnte. Vielleicht war es das, was er wollte: dass endlich je mand die Verbrechen, die in diesem Ort geschehen waren, wahrnahm. »Charlie ist doch nicht vergewaltigt worden. Oder?«
Marten gab ihm einen halbherzigen Stoß. Obwohl er Jeremy brutal zusammengeschlagen hatte, schien er mit ihm noch immer sanfter umzugehen als mit Cara.
»Wen oder was haben Sie denn dann gerächt? Ihre Mutter? Bei allem Respekt, aber so nahe können Sie dieser Frau nicht gestanden haben.«
»Schneller. Ich will da sein, bevor es dunkel wird.«
Cara sagte kein Wort mehr, lief mit gesenktem Kopf und schien sich selbst völlig aufgegeben zu haben.
»Wohin gehen wir?«, fragte Jeremy.
Marten deutete auf ein kleines Wäldchen, das sich am Fuß des Hügels an den Saum eines Maisfelds schmiegte. Die Blät ter wiegten sich im Wind, der, kaum dass sie die Senke von Wendisch Bruch verlassen hatten, auffrischte. Es sah aus, als ob eine unsichtbare himmlische Hand über das Feld strich. In Jeremy keimte zum ersten Mal, seit sie Charlies Rächer begegnet waren, so etwas wie Hoffnung. Er berührte Cara absichtlich mit der Schulter. Sie sah kurz hoch. Er wies mit seinem Blick auf das Feld.
»In den Wald?«, fragte Jeremy.
»In die Hütte.«
Zwischen Maisfeld und Wald, verfallen, mit eingesunkenem Dach, stand etwas, das vor langer Zeit vielleicht ein Stall gewesen sein könnte.
Cara blinzelte ihm zu. Sie hatten die Fahrspuren der Trecker verlassen und liefen nun direkt über einen abgeernteten Kartoffelacker, der an das Maisfeld grenzte.
»Jetzt!«
Jeremy ließ sich mit aller Wucht zurück auf Marten fallen, der mit einem wütenden Schrei zu Boden ging. Cara rannte los. Sie hetzte über die Schollen, fiel hin, rappelte sich wieder auf und jagte auf das Feld zu.
»Halt!«, brüllte Marten. »Bleib stehen! Sofort!«
Er sprang auf und setzte Cara nach. Jeremy, die Hände auf dem Rücken, blieb vornübergebeugt stehen und konnte sehen, wie sie die ersten Reihen der Anpflanzung erreichte. Sekunden später war sie verschwunden. Nur die schnellen, zitternden Bewegungen der großen Pflanzen verrieten, in welche Richtung sie lief.
Marten erreichte das Feld.
»Komm raus!«, brüllte er. »Ich krieg dich!«
Er war zu nah. Er hatte keinen Überblick. Fluchend marschierte er auf und ab. Schließlich entschloss er sich, ihren Spuren zu folgen – niedergetretene Stängel, geknickte Blätter. Er tauchte ein in das wogende Grün.
Jeremy beobachtete atemlos die Bewegungen im Maisfeld. Cara war schnell. Der Abstand zwischen den beiden vergrößerte sich. Marten hingegen brauchte Zeit, um sich in dem Feld zurechtzufinden und Caras Spur nicht zu verlieren. Schließlich rührte er sich nicht mehr vom Fleck. Hatte er seine Suche aufgegeben? Jeremy ließ das Feld für einen Moment aus den Augen und suchte in fliegender Hast nach etwas, das ihm helfen konnte, sich von seinen Fesseln zu befreien. Am Rand des Kartoffelackers lag ein Haufen Steine, ein alter Traktorreifen und anderer Schutt. Sein Herz jubelte in wildem Triumph, als er eine zerschlagene Bierflasche zwischen den Brocken entdeckte. Er warf einen Blick zurück auf das Feld.
Marten bewegte sich nicht mehr. Jeremy konnte nicht ausmachen, wo er sich aufhielt. Dafür beschrieb Cara gerade einen gewaltigen Kreis. Sie ging in die Irre. Sie würde über kurz oder lang direkt in Martens Armen landen. Jeremy lief so schnell er konnte zu dem Steinhaufen und ließ sich fallen. Seine tauben Hände tasteten nach der Flasche. Mehrmals rutschte sie ihm aus den Fingern und rollte weg. Fluchend und schwitzend gelang es ihm schließlich, sie festzuklemmen. Er achtete nicht darauf, dass die scharfkantigen
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