Das Dorf in der Marsch
herum. Aber machen ⦠nee. Das will keiner. Dazu hat keiner Lust. Nur der Wychzek, der hätte es wohl gemacht. Aber den wollten die anderen nicht. So hat sich Michel zur Verfügung gestellt.«
»Wer ist Wychzek?«, fragte Christoph.
»Ein Fremder.«
»Der kann doch ohnehin nicht Bürgermeister werden.«
»Doch«, erwiderte Gesine Witte. »Fremde â das sind Leute, die hierhergezogen sind. Keine von hier.«
»Also ein Zugereister, aber kein Fremder«, stellte Christoph richtig.
»Ein Fremder«, beharrte die Frau.
»Sind Sie hier geboren?«, fragte Christoph.
»Nee. Ich komm aus Westerhever. Aber das ist was anderes. Ich habe einen Einheimischen aus dem Koog geheiratet.«
Christoph kannte die Eigenheiten der Marschbewohner. Entgegen aller Vorurteile waren die Menschen aufgeschlossen und freundlich und zeigten Gästen gegenüber eine zurückhaltende Liebenswürdigkeit. Aber in seiner Wahlheimat Nordstrand kursierte das nicht ernst zu nehmende Gerücht, dass Zugezogene erst nach fünfundsiebzig Jahren »dazugehörten«. Sicher war es in Everschopkoog nicht anders.
»Wollte Ihr Mann gestern Abend noch aus Kiel zurück nach Hause kommen?«
»Das war nicht ganz sicher. Manchmal, wenn es spät geworden ist, ist er auch in Kiel geblieben und hat dort übernachtet.«
»Kennen Sie den Namen des Hotels?«
»Nicht wirklich. Michel hat sich um alles gekümmert. Er hat von dort aus angerufen.«
»Wissen Sie die Telefonnummer?«
»Ja«, erklärte sie und nannte eine Mobilfunknummer.
Christoph seufzte innerlich. Frau Witte hatte ihn missverstanden. Sicher â im Zeitalter des Mobilfunks mit Flatrate rief niemand mehr von einem Hotelanschluss aus an.
»Hatte Ihr Mann Feinde? Gab es Drohungen gegen ihn oder die Familie?«
»Bitte?« Es klang entsetzt. »Wie kommen Sie darauf?«
»Die Polizei interessiert sich auch für Nebensächlichkeiten«, mischte sich GroÃe Jäger ein.
Sie wurden vom Rettungswagen unterbrochen, der auf den Hof fuhr. GroÃe Jäger ging den Rettungsassistenten entgegen und sprach mit Ihnen. Er erklärte ihnen die Situation, wusste Christoph, auch wenn man die Worte nicht verstand.
»Moin«, grüÃte die Frau mit dem sportlichen Kurzhaarschnitt vom Rettungsdienst Nordfriesland, als sie gemeinsam mit ihrem Kollegen und dem Oberkommissar den Raum betrat.
»Moin, Frau Nommensen«, erwiderte Christoph den Gruà der Rettungsassistentin, die mittlerweile seit Jahrzehnten diesen verantwortungsvollen Dienst versah.
»Ich habe Waltraud ins Bild gesetzt«, erklärte GroÃe Jäger und wandte sich an Gesine Witte. »Bei den Kollegen vom Rettungsdienst sind Sie in besten Händen.«
Die Frau nickte nur geistesabwesend. Dann griff sie wieder zum Telefon.
»Ich muss doch Michel anrufen«, sagte sie.
»Das können Sie gleich machen«, sagte die Rettungsassistentin beschwichtigend zu Gesine Witte. Zu den beiden Polizisten gewandt, fügte sie an: »Wir übernehmen. Wir werden sie nach Tönning ins Klinikum bringen.«
Es hatte keinen Sinn, der Frau weitere Fragen zu stellen. Erneut schien ihr die Situation bewusst zu werden, die sie kurzfristig verdrängt hatte. Ein Beben fuhr durch den schmächtigen Körper. Dann brach der nächste Weinkrampf aus.
»Wir gehen«, erklärte Christoph und verlieà mit GroÃe Jäger das Haus.
Als sie um die Ecke bogen, fuhr ein gelber Renault Kangoo auf das Grundstück. An der Seitenwand prangte das schwarze Posthorn. Ein drahtiger Mann, Christoph schätzte ihn auf über fünfzig, stieg aus und hielt mehrere Briefe zwischen Daumen und Zeigefinger. Zögernd blieb er neben seinem Fahrzeug stehen. Christoph ging auf ihn zu.
»Sie haben gehört, was sich hier zugetragen hat?«, fragte er.
Der Briefträger presste die Lippen zusammen. »Das spricht sich schnell herum.«
»Sind Sie für diesen Ort zuständig?«
»Seit über zwanzig Jahren bin ich in diesem Zustellbezirk tätig.«
»Dann wissen Sie, wer in Everschopkoog lebt?«
»Das ist zutreffend.«
»Sie kennen auch Michael Witte?«
Der Zusteller nickte bedächtig. »Sicher. Michel wird er genannt. Alle sagen Michel zu ihm. Ein feiner Kerl. Zurückhaltend. FleiÃig. In der Marsch trifft man sich immer wieder. Wohnen ja nicht viele Leute hier. Wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher