Das Dornenhaus
neidisch.
»Deine Großmutter hat auf mich nicht gerade den Eindruck einer reichen Frau gemacht«, sagte ich.
Ellen zuckte mit den Schultern. »Mama sagt, dass sie es war. Sie sagt, Großmutter hat ihr Geld gehortet, statt es auszugeben.«
»Aber warum sollte sie es dir vermacht haben? Sie hat dich ja nie kennengelernt. Warum hat sie es nicht deiner Mutter vererbt?«
»Sie hatten sich zerstritten. Sie haben viele Jahre lang kein Wort mehr miteinander gesprochen.«
»Und was ist mit deinem Vater?«
»Er weiß nichts davon. Du darfst ihm auf keinen Fall etwas erzählen. Schwöre mir, dass du es ihm nicht sagst!«
Ich schwor es. Als wäre ich je auf die Idee gekommen, Mr Brecht eine derart hanebüchene Geschichte zu erzählen!
Während Mrs Brechts Tod näherrückte, wurde Ellen immer stiller, dünner und sonderbarer. Und eigenartigerweise vertauschten sich unsere Rollen.
Als schließlich eine Krankenschwester für die Nachtwache in Thornfield House eingestellt wurde, war der bevorstehende Tod von Mrs Brecht das beherrschende Thema in Trethene und auch in der Schule. Im Pausenhof tuschelten die anderen Mädchen über Ellen, und nun war ich diejenige, die sie in die Schranken wies.
»Was starrt ihr so?«, sagte ich und machte ein finsteres Gesicht.
»Allzu viel scheint es ihr ja nicht auszumachen.« So oder so ähnlich lautete die Antwort der Mädchen. »Wenn meine Mutter im Sterben läge, würde ich nur noch weinen! Aber sie wird ja immer komischer.«
Dann sahen alle Ellen an, die wie eine Unbeteiligte dastand oder auf einer Bank saß, die Knie umfasst, und in den Himmel blickte.
»Ihr wisst doch überhaupt nichts über sie«, erwiderte ich. »Also lasst sie in Ruhe.«
Andere Mitschülerinnen bemühten sich, sich mit Ellen anzufreunden. Sie wollten Teil des Dramas sein, waren fasziniert von dem bevorstehenden Tod von Ellens Mutter, aber Ellen interessierte sich nicht für sie. Sie schien nur mich zu brauchen, und ich war stolz, ihre Freundin zu sein, was in mir wiederum das Bedürfnis weckte, sie zu beschützen.
Es stimmte, dass Ellen nicht auf herkömmliche Art trauerte, aber ich wusste, dass sie litt. In unbeobachteten Momenten suchte sie Trost bei mir. Oft kaute sie an den Nägeln und fröstelte in ihren Kleidern, die ihr plötzlich zu groß geworden schienen. Dann schmiegte sie sich an mich, als wolle sie an meiner Wärme teilhaben. Sie grub die Hände in meine Taschen, und ich bedeckte sie mit meiner Hand, die größer und wärmer war als ihre. Manchmal zwängten wir uns in einen Pullover oder teilten uns eine Strickjacke. Ich schlüpfte in einen Ärmel und sie in den anderen, sodass wir eng aneinandergeschmiegt waren. Damals kam es mir so vor, als würde ich ständig wachsen, während sie immer kleiner wurde. Ich war die große, kuschelige Henne und sie ein kleines, dürres Küken.
Meine neue Rolle als Beschützerin und Anführerin gefiel mir. Ich genoss die veränderte Dynamik unserer Beziehung. Endlich hatte ich das Gefühl, wirklich dazuzugehören und nicht bloß als Zuschauerin am Rand zu stehen.
Unterdessen fiel es Ellen immer schwerer, sich anzupassen.
Als sie zum Beispiel im Englischunterricht aufgefordert wurde, ihren Aufsatz mit dem Thema »Die Schönheit der Natur« vorzulesen, stand sie auf und sagte ein Gedicht über einen Hirschschädel auf, den sie angeblich am Strand gefunden hatte und auf ihrer Frisierkommode aufbewahrte. In Wirklichkeit war es der Schädel eines Schafs, aber Ellen behauptete beharrlich, er stammte von einem Hirschen. Das Gedicht war im Grunde nur eine willkürliche Aneinanderreihung von Worten, eine Art verbales Treibholz. Aber weder bei dieser noch bei anderen Gelegenheiten, bei denen sie ungehorsam war, bekam sie Ärger. Wenn sie zum Beispiel einfach nur dasaß und auf einer Haarsträhne kaute und dem Lehrer keinerlei Beachtung schenkte. Die Lehrer ließen sie gewähren, sie schienen einfach nicht zu wissen, was sie mit ihr machen sollten. Auch Miss Tunnock, unsere Sportlehrerin, sagte kein Wort, wenn sich Ellen heimlich verdrückte, anstatt beim Geländelauf mitzumachen; stattdessen bat sie zu meiner Freude mich, nach ihr zu sehen. Als ich später in den Umkleideraum kam, genoss ich die neidischen und empörten Blicke meiner Klassenkameradinnen. Ellen und ich kauerten uns eng aneinandergeschmiegt an einen Heizkörper, einen Mantel und einen Schal um uns beide geschlungen, sodass unsere Herzen im Gleichklang schlugen.
Eines Nachmittags, als wir aus dem
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