Das Dornenhaus
Ende bereiten zu können, und ihrem Tod vergingen zwei Jahre. Das Sterben von Mrs Brecht vollzog sich langsamer als der Wechsel der Jahreszeiten, langsamer als unser Erwachsenwerden. Und als sie schließlich starb, erwachte der Garten von Thornfield House gerade wieder zu neuem Leben. Die Obstbäume und Büsche an der Mauer waren zurückgeschnitten worden. Aus einem Springbrunnen plätscherte fröhlich Wasser in den Teich. Kleine Treppen und Wege führten zu den verschiedenen Blumenbeeten und Bereichen des Gartens – dem Kräuter- und Gemüsegarten, einem Duftgarten und wieder einem anderen Teil, wo nur gelbe Blumen wuchsen. Zu keiner Jahreszeit wirkte der Garten verlassen. Im Sommer umschwärmten Schmetterlinge und Bienen die Blüten, im Winter zogen die im Garten verteilten Futterstellen Scharen von Vögeln an. Wenn eine Blumenart verwelkte, blühte eine andere auf. Auf diese Weise verwandelte sich der Garten von Tag zu Tag kaum merklich und schien mit jedem weiteren Tag noch schöner zu werden. Bis wenige Monate vor Mrs Brechts Tod trafen Ellen und ich sie immer wieder im Garten an, wo sie sich, auf Mr Tremletts Arm gestützt, besah, was sie beide geschaffen hatten. Wenn sie draußen war und den Anblick der Blumen genoss, wirkte sie glücklicher, so als linderte der Garten ihre Schmerzen. Kaum war sie wieder im Haus, verschlechterte sich ihr Zustand wieder.
Mr Brecht wusste natürlich, dass seine Frau sterben würde. In dem Maße, wie sich die Gesundheit seiner Frau verschlechterte, machte er einen zusehends unglücklichen und gequälten Eindruck. Noch immer verbrachte ich viel Zeit in Thornfield House, oft begleitete ich Ellen nach der Schule von der Bushaltestelle nach Hause. Und auch wenn sich Mr Brecht nicht mehr wie früher mit uns beschäftigte, war er stets da, von Tag zu Tag magerer, ungepflegter und zermürbter, aber noch attraktiver in meinen Augen. Seine obligatorische Zigarette zwischen den Fingern, schritt er durch das große alte Haus. An den Tagen, wenn Mrs Brecht im Hospiz war, sagte Ellen, es sei besser, wenn ich nicht mit hineinkäme.
»Papa ist verzweifelt, wenn sie nicht da ist«, erklärte sie. »Dann trinkt er, weil er sonst den Tag nicht übersteht.«
»Wieso denn?«
Ellen sah mich an, als wäre ich schwer von Begriff. »Alkohol ist ein Betäubungsmittel. Es nimmt den Schmerz.«
»Ach so.«
»Und er will dann, dass ich die ganze Zeit Klavier spiele, weil ich ihn an sie erinnere.«
Sie zupfte nervös an ihren Nägeln, und ihre Miene verdüsterte sich. Ich rief mir den Tag, als ich sie durch das Fenster beim Klavierspiel beobachtet hatte, ins Gedächtnis, wie zärtlich Mr Brecht Ellen umfasst hatte. Und bei der Erinnerung an diese Szene, die voller köstlicher Tragik war, seufzte ich leise. Mrs Brechts Sterben war für mich etwas wie das Ende der Schulzeit oder der Beginn des Studiums oder der erste Sex, etwas, das irgendwann in der Zukunft stattfinden würde, aber das man sich in der Gegenwart noch nicht vorstellen konnte.
Ellen hatte sich unterdessen mit dem unvermeidlichen Tod ihrer Mutter abgefunden. Sie wusste, dass sie sterben würde. In der langen Zeitspanne zwischen dem Moment, da es ihr klar geworden war, bis zu dem Tag, als ihre Mutter starb, machte Ellen des Öfteren Andeutungen, dass es bald so weit sei. Es kam vor, dass sie mitten in einer Unterhaltung eine Bemerkung fallen ließ, als wollte sie daran erinnern, dass sie Teil dieser ihrem Höhepunkt zustrebenden Tragödie war.
Einmal erzählte sie, ihre Mutter habe sie zu sich gerufen, während ihr Vater schlief, und Ellen in ein Geheimnis eingeweiht. Ellen hatte ihr versprechen müssen, niemandem ein Sterbenswörtchen zu erzählen, aber mir sagte sie es. Mrs Withiel, Ellens Großmutter und Anne Brechts Mutter, sei sehr wohlhabend gewesen. Und sie habe ihr ganzes Vermögen Ellen hinterlassen. An ihrem achtzehnten Geburtstag würde Ellen ihr Erbe antreten können. Mrs Brecht habe die entsprechenden Vorkehrungen getroffen. Ein Anwalt würde zu ihnen nach Thornfield House kommen, und Ellen würde einige Unterschriften leisten müssen, dann würde alles ihr gehören, das gesamte Vermögen! Als Ellen mir das erzählte, hatte sie diesen erregten, verschwörerischen Gesichtsausdruck mit den weit aufgerissenen Augen, den sie immer aufsetzte, wenn sie eine ihrer Geschichten zum Besten gab. Und da ich mir sicher war, dass sie sich das Ganze mal wieder ausgedacht hatte, war ich kein bisschen
Weitere Kostenlose Bücher