Das Dornenhaus
Schulbus stiegen und ich mich auf den Nachhauseweg machen wollte, fasste Ellen mich am Arm.
»Geh doch mit mir nach Hause«, sagte sie. »Du musst ja nicht hereinkommen, sondern kannst mich einfach nur begleiten.«
Es war kalt, und der Wind wehte uns ins Gesicht. Wir bargen das Kinn in unseren Schals und hakten uns unter. Unsere Schritte folgten dem gleichen Rhythmus, so wie manchmal unser Herzschlag.
»Was ist los?«, fragte ich.
Ellen zuckte mit den Schultern. »Meine Finger tun weh.«
»Warum denn?«
»Papa ist schuld. Er zwingt mich immer, Klavier zu spielen.«
»Weil deine Mutter dir gern zuhört?«
Ellen nickte. Ich spürte einen Anflug von Ärger. War es denn zu viel verlangt, dass sie in einer so schwierigen Phase die Lieblingsstücke ihrer Mutter spielte?
»Es handelt sich nicht nur um ein, zwei Stunden. Wenn es nach ihm geht, soll ich die ganze Zeit spielen«, sagte sie. »Gestern hat er mich fünfzig Mal die Mondscheinsonate wiederholen lassen.«
»Fünfzig Mal – im Ernst?«
»Na ja, drei oder vier Mal, aber es hat sich wie fünfzig Mal angefühlt. Jetzt geht mir die Musik gar nicht mehr aus dem Kopf. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren! Kann an nichts anderes mehr denken.«
Sie zog den Arm aus meiner Armbeuge, hob einen Stock auf und schlug damit gegen die kahle Hecke. Die schwarz-weißen Kühe auf der anderen Seite der Hecke hoben die Köpfe. Sie kauten mit malmenden Kiefern und sahen uns blinzelnd an.
»Er ist verrückt«, fuhr sie fort. »Ehrlich, Hannah, ich glaube wirklich, dass Papa verrückt ist.«
»Verrückt vor Kummer vielleicht?«
»Er ist besessen. Keinen Augenblick lässt er Mama allein. Er sitzt die ganze Nacht neben ihr. Auch wenn sie schläft, weicht er nicht von ihrer Seite, sondern legt sich neben sie, anstatt in sein Zimmer zu gehen.«
Wie romantisch, dachte ich. Ich stellte mir vor, wie erfreut ich an Mrs Brechts Stelle wäre, wenn ich am nächsten Morgen erwachen und Mr Brechts Kopf neben mir erblicken würde.
Ellen brach den Ast durch und warf beide Teile über die Hecke.
»Ich muss sogar Klavier spielen, wenn Mama schläft.«
»Wieso das denn?«
»Damit die Musik sie in ihren Träumen begleitet. Papa sagt, dass das Klavierspiel sie an ihre glücklichste Zeit erinnert, als sie noch jung und gesund war.«
Ich sah Ellen verstohlen an, fragte mich, ob sie jetzt daran dachte, dass die glücklichste Zeit ihrer Mutter vor Ellens Geburt gewesen war. Ihre Miene verriet nichts.
»Wenn es Mama wirklich helfen würde, würde ich meinetwegen Tag und Nacht Klavier spielen«, sagte Ellen. »Dann wäre es mir egal, wenn meine Fingerkuppen wund sind und dass ich das Spielen hasse. Aber sie hat genug von der Musik. Deswegen redet sie die ganze Zeit vom Hospiz. Sie möchte weg von all dem … von ihm.«
Damals begriff ich es nicht. Natürlich tat Mrs Brecht mir leid, ich verstand aber nicht, warum sie ihrem Mann gegenüber so grausam war. Es zerriss mir fast das Herz vor Mitleid mit Mr Brecht. Gewiss, es war schlimm, sterben zu müssen; aber noch schlimmer war es womöglich für denjenigen, der im Begriff war, einen geliebten Menschen zu verlieren. Einen Menschen, den er so liebte wie Mr Brecht seine Frau. Er war der romantischste und tragischste Mensch, den ich kannte. Wenn ich an ihn dachte, bekam ich sofort feuchte Augen.
Das letzte Mal, dass ich mit Mrs Brecht sprach, war am Tag vor meinem siebzehnten Geburtstag im November und wenige Wochen vor ihrem Tod. Sie lag im hinteren Wohnzimmer im Erdgeschoss von Thornfield House, von wo aus sie in den Garten blicken konnte. In einen Kaschmirschal gewickelt, ruhte sie sich aus. Mr Brecht war mit dem Wagen nach Truro gefahren, und Ellen und Mrs Todd kümmerten sich um sie.
Sie wirkte noch ausgezehrter als das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte. Wie eine Bleistiftzeichnung schien sie nach und nach zu verblassen, bis nichts mehr von ihr übrig wäre. Adam Tremlett hatte für sie Narzissen in seinem Treibhaus gezogen und ihr einen großen Strauß vorbeigebracht. Die Blumen sollten sie an den Frühling erinnern, den sie wahrscheinlich nicht mehr erleben würde. Mrs Todd bat Ellen und mich, die Blumen in zwei Vasen zu stellen und sie zu ihr ins Zimmer zu bringen. Das ganze Haus war voller Blumen. Meine Mutter, die Mrs Todd während der schlimmsten Zeit ein paar Mal beim Putzen half, sagte, man komme sich vor wie in einem botanischen Garten. Niemand von uns hatte je ein Haus mit so vielen Blumen
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