Das Dornenhaus
jemand getötet worden war oder dass die Bewohner Hals über Kopf den Ort des Geschehens verlassen hatten. Und doch strahlte Thornfield House eine ungewöhnliche, unheimliche Atmosphäre aus. Irgendwas stimmte hier nicht. Eine heimtückische Kälte lauerte in den Mauern, die mir unter die Haut kroch und mich zutiefst beunruhigte. Ich konnte es nicht erwarten, das Haus wieder zu verlassen. Es war, als stünde ich an einer Felskante und als trennte mich nur ein kleiner Schritt von einem tiefen Abgrund. Noch nie hatte ich eine solche Angst verspürt, eine irrationale Angst, die unbegründet und gerade deshalb umso bedrohlicher war.
Dennoch folgte ich Jago die Treppe hinauf in den ersten Stock, genau wie beim ersten Mal, als wir in dem Haus gewesen waren. Obwohl es draußen bereits dämmerte, machten wir kein Licht an. Im Flur war es fast völlig dunkel. Ich schlang die Arme um den Körper.
»Lass uns wieder gehen, Jago«, wisperte ich.
»Nein, ich muss wissen, wo Ellen ist«, erwiderte er ebenfalls flüsternd. »Ich muss wissen, ob es ihr gut geht.«
Er stieg die schmale Treppe ins Dachgeschoss hinauf, wo sich Mrs Todds Zimmer befand. Da ich dringend zur Toilette musste, benutzte ich das Badezimmer im ersten Stock, traute mich jedoch nicht, die Tür zuzumachen, geschweige denn abzuschließen, und lehnte sie nur an. Als ich die Hände unter dem Wasserhahn der Badewanne wusch, bemerkte ich im Abfluss ein blutiges Haarbüschel. Ich trocknete die Hände an dem zitronengelben Handtuch, das an der Handtuchstange hing. Es war feucht.
Ich ließ es fallen und wich entsetzt zurück.
Mein Instinkt sagte mir, ich solle die Tür abschließen und um Hilfe rufen. Aber das Bad lag auf der Rückseite des Hauses, dahinter befand sich ein Wäldchen, und niemand würde mich hören. Genauso wenig konnte ich einfach die Flucht ergreifen, ohne vorher Jago zu alarmieren, dass sich noch jemand im Haus befand.
Ich öffnete einen Spaltbreit die Tür und spähte hinaus. In der Dunkelheit konnte ich nichts erkennen. Auf Zehenspitzen tastete ich mich auf dem dicken Teppich vorsichtig weiter. Am Fuß der Treppe zum Dachgeschoss blieb ich stehen und spähte hinauf.
»Jago!«, rief ich so leise wie möglich. »Jago!«
Plötzlich spürte ich eine Hand auf der Schulter und wich keuchend zurück.
»Jago!«
»Pst!« Er legte den Zeigefinger an die Lippen.
»Jemand ist im Haus«, sagte ich im Flüsterton.
Er nickte und deutete auf die Tür des Zimmers neben dem von Ellen.
Ein Lichtstreifen zeichnete sich in der Dunkelheit unter der Tür ab. Das Licht war schwach und flackerte und stammte offenbar von einer Kerze. Ich lauschte angespannt und machte trotz meines laut pochenden Herzens ein leises Schluchzen aus.
Vorsichtig schlichen wir zur Tür. Wir waren bereits einmal daran vorbeigegangen, und wer immer da drin war, musste gehört haben, wie Jago durchs Fenster in Ellens Zimmer gestiegen und wie die Toilettenspülung gegangen war. Vielleicht hatte der- oder diejenige uns auch draußen im Garten gesehen. Vielleicht war er uns heimlich durchs Haus nachgeschlichen und hatte nur auf eine Gelegenheit gewartet, um …
Jago und ich sahen einander an.
»Was, wenn es Mr Brecht ist?«, fragte ich beinahe lautlos.
Jago schüttelte den Kopf. Er legte die Hand auf den Türknauf.
»Nein!«, rief ich. »Jago, nicht!« Aber Jago hatte den Knauf bereits gedreht. Er schob die Tür auf.
Der Mann, der auf dem Bett saß, trug eine dunkelblaue Jacke. Er wandte uns den Rücken zu. Seine Schultern waren nach vorn gesackt – seine ganze Körperhaltung war die eines zutiefst verzweifelten Menschen. Sein Kopf war verbunden. Während Jago und ich stocksteif im Türrahmen standen und ihn entsetzt anstarrten, drehte sich Adam Tremlett zu uns um. Die eine Hälfte seines Gesichts war geschwollen und blutunterlaufen, und die schwärzlich gelbe Haut spannte sich darüber. Hässliche schwarze Nähte durchzogen seine Stirn, und eine Binde lief diagonal über sein Gesicht und bedeckte das rechte Auge. Langsam stand er vom Bett auf und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
»Komm!«, sagte Jago. Er nahm mich an der Hand und zog mich hinaus. Ohne uns weiter darum zu kümmern, leise zu sein, polterten wir die Treppe hinunter, wollten nur noch weg von hier. Unten angekommen, riss Jago die Haustür auf, und wir stürzten die Auffahrt hinunter und auf die Straße hinaus, und obwohl die kalte Nachtluft in meinen Lungen brannte, rannten wir bis nach Hause.
Ein paar
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