Das Dornenhaus
Tage später erhielten wir eine Ansichtskarte von einer malerischen Stadt in Sachsen-Anhalt. Sie war mit einer deutschen Briefmarke frankiert, und die zierliche, ebenmäßige Handschrift auf der Rückseite der Karte war unverkennbar Ellens.
Wir sind mit Mrs Todd nach Magdeburg gefahren und wohnen bei meinen Großeltern, schrieb sie. Sie kümmern sich rührend um uns. Sobald es Papa besser geht, begleitet meine Tante uns nach Cornwall zurück. Bis bald, alles Liebe, Eure Ellen.
»Ist Mr Brecht krank?«, fragte ich meine Mutter.
»Keine Ahnung.«
In kurzen Abständen trafen zwei weitere Ansichtskarten ein sowie ein Brief von Mrs Todd an meine Mutter. Der Brief enthielt einen Scheck, der auf den Namen meiner Eltern ausgestellt war. Mum reichte ihn Dad. Er besah ihn sich, faltete ihn zusammen und steckte ihn pfeifend in seine Brieftasche.
»Wofür ist der?«, fragte ich.
»Dafür, dass ich Mrs Todd beim Saubermachen geholfen habe«, erklärte meine Mutter.
»Blutgeld«, lautete Jagos Kommentar.
»Genug, um jedem von uns etwas Schönes zu kaufen«, sagte Dad. »Zum Beispiel können wir jetzt endlich diesen Wagen da draußen für dich zum Laufen bringen, mein Sohn!«
Mum sagte, dass Mrs Todds Brief recht zuversichtlich klinge. Mr Brechts Familie sorge für ihn und Ellen. Mr Brecht sei bei einem Psychiater in Behandlung. Mr Tremlett hätten sie ebenfalls eine »großzügige« Summe zukommen lassen. Ellen habe sich wieder von ihrem Schock erholt. Sie sei »in sich gekehrt, aber ruhig«.
»Was meint sie denn damit?«, fragte ich.
»Mach dir mal keine Sorgen um Ellen Brecht, kümmere dich besser um dich selbst«, sagte Dad und nickte in Richtung Küchentisch, der von einem Stapel Bücher und Blätter bedeckt war. »Du hast noch dein ganzes Leben lang Zeit, dir um andere Menschen Sorgen zu machen.«
Der Mai kam und mit ihm meine Abschlussprüfungen in der Schule. Ich quälte mich sehr. Fühlte mich nicht gut genug vorbereitet und unsicher. Ich fürchtete, für ein naturwissenschaftliches Studium nicht intelligent genug zu sein. Aber was sollte ich sonst tun? Paläontologie war das einzige Fach, das mich je interessiert hatte.
Nach den Prüfungen standen meine Schulkameraden an der Bushaltestelle oder in der Cafeteria zusammen, um sich darüber auszutauschen, wie es bei ihnen gelaufen war. Ich hielt mich immer abseits, fühlte mich isoliert und wünschte, Ellen wäre da und wir könnten uns über das Getue der anderen lustig machen. Ellen hatte schon immer jede Form der Heuchelei verabscheut.
Seltsamerweise hatte ich sie bis vor Kurzem, als sie noch in Thornfield House wohnte, wir uns aber kaum sahen, nicht so sehr vermisst. Aber jetzt, da sie weit weg war, fehlte sie mir schrecklich. Mehrmals träumte ich, ich wäre Ellen und erlebte mit ihren Augen, was sie durchgemacht hatte. Ich betrat den Salon und sah, wie ihr Vater den Schürhaken über den Kopf hob. Ich sah das dunkle Blut auf den Holzdielen und warf mich zwischen Mr Brecht und Mr Tremlett. Ich rutschte in der Blutlache aus, und das Blut klebte an meinen Händen und ließ sich nicht mehr abwaschen.
Wenn ich aus den Albträumen erwachte, lag ich auf dem Bett und starrte an die Decke. Ich dachte an Mr Brecht und sagte mir: Er hat nur seinen Besitz verteidigt. Es war sein gutes Recht, das zu tun.
Ein- oder zweimal in der Woche spazierte ich abends mit Trixie nach Thornfield House, aber es war nie jemand da. Die Haustür, die Jago und ich in jener Nacht sperrangelweit offen gelassen hatten, war jetzt mit einem Vorhängeschloss zugesperrt. Die Fenster im Erdgeschoss waren mit Brettern vernagelt, um Einbrecher, Obdachlose und Hausbesetzer fernzuhalten. Der Garten verwilderte zusehends, aber wenigstens wuchsen wieder einige Blumen, die sich selbst ausgesät hatten, wie Levkojen, Mohn und Eisenkraut. Auch die Lavendelbüsche, die Mrs Brecht so geliebt hatte, blühten erneut, ebenso wie ein, zwei Rosensorten.
»Was, wenn sie beschließen, in Deutschland zu bleiben?«, fragte Jago immer wieder. »Was, wenn sie für immer weggegangen sind und ich Ellen nie wiedersehe?«
Er saß neben mir am Küchentisch, wo ich meine Unterlagen ausgebreitet hatte. Mir stand noch eine Prüfung bevor, auf die ich mich vorzubereiten versuchte. Jago trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und kaute auf der Unterlippe, und beides irritierte mich. Trixie lag wie gewohnt auf meinen Füßen. Ich spürte ihren Herzschlag durch meine Socken
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