Das Drachentor ("Drachenkronen"-Trilogie) (German Edition)
ein Stück. Wo noch vor Augenblicken der Vampir von den verbrannten Hölzern zu Boden gedrückt worden war, saß nun eine Ratte. Die kläglichste Ratte, die Tonya je zu Gesicht bekommen hatte! Sie war so dünn, dass man ihre Rippen unter dem rußigen Fell sah, das ihr an manchen Stellen büschelweise ausgegangen war. Ihr rechtes Ohr war zerfetzt und ein Auge getrübt. Nur das linke Auge, das auf Tonyas eingeklemmten Körper blickte, schimmerte in hellem Rot. Sie bildete sich ein, so etwas wie Mitleid in dem Blick des kleinen Tieres zu erkennen. Dann wandte sich die Ratte ab und schlüpfte zwischen den Balken hinaus in die Nacht.
Tiefe Einsamkeit breitete sich in Tonyas Geist aus. Verzweiflung griff nach ihr. Wie lange würde sie leiden müssen, bis der Tod sie erlöste? Sie beschloss, den Dämon zu rufen, damit er sie holte. Ihre Hand zuckte, doch sie konnte sie nicht zu ihrer Brust heben, wo das Amulett sein musste. Tonya spürte mit ihrem Geist nach dem roten Stein. Er war nicht da! Die Erkenntnis durchrieselte sie wie Eis. Sie musste das Amulett verloren haben! Panik befiel sie. Nein, das konnte nicht sein! Seit sie in den Orden eingetreten war und Mutter Morad ihr den Stein an seinem Lederband um den Hals gelegt hatte, hatte sie sich nicht von ihm getrennt. Er war die Verbindung, aus der sie ihre Kraft bezog. Das hatte die Oberin ihr immer wieder gesagt. Tonya wandte den Kopf in die andere Richtung. Sie stöhnte auf, als der Schmerz durch ihren Körper fuhr. Was war das dort unter dem Stein, nur ein paar Fuß von ihr entfernt? Ein rötlicher Schimmer. Das musste ihr Amulett sein! Tonya biss die Zähne zusammen, hob die linke Hand ein wenig an und streckte die Finger. Vergeblich. Es war so nah und doch so unerreichbar, als hätte der Vampir es zum Mond geschleudert. Wären ihr noch Tränen geblieben, sie hätte in ihrer Verzweiflung geweint. Erschöpft ließ Tonya die Hand wieder fallen.
Eine Weile lag sie nur da und starrte in den Nachthimmel, über den die Sterne langsam hinwegzogen. Plötzlich fiel ihr etwas ein: Warum hatte sich der Vampir nicht aus ihrem Griff befreien können, obwohl sie ihr Amulett verloren hatte? Sie wusste, dass sie anders war als andere, deshalb hatte Mutter Morad sie ausgewählt und zum Kloster in die Sümpfe bringen lassen. Sie sei empfänglicher für die Macht, die die Dämonen einem gaben, hatte sie ihr gesagt, doch ohne Amulett sei das nichts wert. Oder etwa doch? Zum ersten Mal kam ihr der Verdacht, Mutter Morad könnte sie belogen haben. Aber warum?
Ein Heulen erklang im Hof. Der Wolf! Astorin hatte ihn nicht getötet. Für einen Moment wurden ihre Augen feucht vor Erleichterung.
Das Klagen des Wolfs kam näher. Er überwand die verbrannte Schwelle mit einem Sprung, doch als er aufsetzte, knickten seine Hinterläufe ein. Er hinkte auf Tonya zu, die noch immer von Balkenresten zu Boden gedrückt wurde. Umständlich kletterte er über die Trümmer hinweg und blieb dann neben ihr stehen. Er sah erbärmlich aus. Tonya konnte nicht erkennen, was ihn verwundet hatte. Das Feuer war es jedenfalls nicht gewesen. Dennoch war er ähnlich zugerichtet aus dieser Nacht der Verwüstung hervorgegangen wie sie alle – außer vielleicht Astorin. Der Wolf reckte den Hals und fuhr mit seiner Zunge sacht über Tonyas Wange. Der Schmerz ließ sie zusammenzucken, und doch tat ihr die Berührung gut.
Na, mein Freund, wie ist es dir ergangen? Hat Astorin bekommen, wonach er so gierte?
Der Wolf winselte kläglich und ließ sich zwischen den Trümmern nieder.
Du hast getan, was in deinen Kräften stand, dachte Tonya, so wie auch ich mein Bestes gegeben habe.
»Nur leider fragt später keiner mehr danach. Dann zählt nur noch, ob wir gesiegt oder versagt haben.«
Tonyas Kopf fuhr herum, als sie die Stimme des Grafen so unvermittelt neben sich vernahm. Sie wimmerte, als der Schmerz der plötzlichen Bewegung ihren Körper durchzuckte.
»Uns ist es jedenfalls nicht gelungen, diesen Wahnsinnigen aufzuhalten.« Er beugte sich über Tonya und begann, die Balken wegzuräumen. Obwohl er noch immer schrecklich aussah, hatte er offensichtlich einen Teil seiner Kräfte zurückgewonnen. Tonya folgte seinen Bewegungen mit ihrem Blick.
Haben wir denn versagt?
Der Vampir hielt für einen Moment in seiner Arbeit inne. »Ich für meinen Teil, ja, denn mir wurde das Wichtigste entwunden, das ich für alle Zeit zu schützen gelobte. Vielleicht werden mich die schwarzen Drachen dafür zur Rechenschaft ziehen.
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