Das Drachentor ("Drachenkronen"-Trilogie) (German Edition)
wusste, dass dieses Gefühl eine Illusion war, dennoch raffte sie beherzt ihren Reisemantel und trat ein. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte die Schritte des Grafen nicht hören. Dafür spürte sie seinen kalten Atem in ihrem Nacken, obwohl er dafür viel zu weit weg stand.
Ein Diener in rotem Livree, an deren Revers große goldene Knöpfe prangten, stand stumm in der Tür und verbeugte sich steif. Sein Gesicht blieb eine unbewegliche Maske, als er die Hand ausstreckte, um Tonya den Mantel abzunehmen. Er nahm den eleganten Reiseumhang entgegen und wartete, bis die junge Frau ihre Handschuhe abgestreift und ihm gereicht hatte. Als sich ihre Finger versehentlich berührten, stieß der Diener ein knurrendes Geräusch aus. Seine Glieder zuckten unkontrolliert. Mantel und Handschuhe von sich gestreckt, taumelte er zwei Schritte zurück. Seine Augen flackerten rötlich. Er war ein Untoter. Sie hätte es sich denken können. Tonya versuchte so zu tun, als wäre nichts geschehen, doch dem Hausherrn war der Zwischenfall nicht entgangen. Der Graf zog die Brauen zusammen und sah erst seinen Diener, dann die junge Frau an.
»Wie wundervoll!«, rief Tonya aus, um ihn abzulenken. Sie breitete die Arme aus und schritt in die von Kristalllüstern erleuchtete Halle. Die spitzbogigen Fenster, die sie von außen gesehen hatte, waren mit schweren blauen Samtvorhängen verhüllt. Der Boden war mit einem Mosaik belegt, an den Wänden hingen wertvolle Teppiche, doch was das Auge anzog, war die doppelläufige Treppe, die in anmutigem Schwung von zwei Seiten nach oben führte, um sich dann in der Mitte unter einem freskengeschmückten Torbogen zu vereinen, durch den man wohl die Gemächer der oberen Stockwerke erreichte. Kein Stützpfeiler störte den harmonischen Bogen.
»Nicht wahr? Es ist eine architektonische Meisterleistung«, schnurrte der Graf.
Oder eine magische, dachte Tonya und lächelte ihn so charmant wie möglich an. Graf von Draka führte seine Besucher unter der Treppe hindurch zu einem Speisesaal und bat sie, an der Tafel Platz zu nehmen. Ein weiterer Diener, der genauso stumm und untot war wie der an der Eingangstür, servierte ihnen Wein in kristallenen Gläsern. Tonya wunderte sich nicht, dass der Graf zu seinem eigenen Zinnkrug griff und sich nicht vom Wein einschenken ließ. Spannungsgeladene Stille senkte sich herab, nachdem sie sich gegenseitig zugeprostet und sich Gesundheit gewünscht hatten. Tonya betrachtete scheinbar interessiert einen Wandteppich. Goldbestickte Ornamente wurden von verschlungenen Formen in dunklem Rot umrankt. Dazwischen flatterten exotische Vögel. Alles wirkte sehr kostbar, wenn auch ein wenig altmodisch.
»Nun, gefällt Euch mein bescheidenes Heim?«, brach der Graf die Stille.
»Bescheiden?« Tonya lächelte ihn an. »Prächtig wäre das passendere Wort, Herr Graf.«
Die Antwort schien ihm zu gefallen. Er entblößte seine Zähne zu einem Lächeln. Tonya fühlte Astorins Unruhe. Was erwartete er von ihr? So ungewöhnlich ihre Kräfte auch sein mochten, sie war nicht in der Lage, einen so mächtigen Vampir zu vernichten oder ihm gar – gegen seinen Willen – ein Geheimnis zu entreißen. Nein, sie mussten behutsam vorgehen, wenn sie die Figur finden wollten. Dann würden sie vielleicht gar nicht mit dem Vampir kämpfen müssen.
»Es ehrt mich, wenn Euch mein Heim gefällt«, sprach der Graf weiter und erhob sich. »Ich führe Euch später gerne herum, wenn es Euch interessiert. Verzeiht, das Essen wird noch ein wenig dauern. Wir waren ja nicht auf Gäste vorbereitet. Ihr wünscht Euch sicher vorher ein wenig frisch zu machen. Euer Gepäck findet Ihr in Euren Gemächern. Meine Diener werden Euch hinaufbegleiten und zum Mahl wieder abholen. Die Burg ist sehr weitläufig. Ich möchte nicht, dass Ihr Euch verirrt.«
Schon standen zwei Diener mit Leuchtern in den Händen an der Tür und schritten mit hölzernen Bewegungen voran. Tonya knickste vor dem Grafen und folgte dann ihren Führern und dem Magier in die Halle zurück und die Treppe hinauf. Oben trennten sich ihre Wege. Sie warf Astorin einen fragenden Blick zu, doch der zuckte nur mit den Schultern. Tonya wagte nicht, ihn vor den Dienern zu fragen, was er nun vorhabe. Vielleicht konnten die Toten ihrem Meister ja davon berichten. So blieb ihr nichts anderes übrig, als einem der Diener in ihr Gemach zu folgen.
»Welch prachtvolle Gemälde«, sagte sie und deutete auf einige Portraits an den Wänden. »Sind das Vorfahren
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