Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
Klinge an Revyns Hals. Revyn starrte den König aus den Augenwinkeln an, ohne sich zu bewegen.
    »Ich werde alles tun, alles, um mein Volk zu retten«, sagte Khaleios leise. »Kein Opfer ist groß genug. Das Leben ist ein Kampf um einen Anteil an dieser Welt, um ein Stück Macht, um ein gehörtes Wort. Alle Regeln der Welt müssen sich diesem Drang zu existieren unterwerfen. Wenn ich die Existenz meines Volkes dadurch sichern könnte, würde ich nicht zögern, dich zu töten.«
    Revyn rang nach Luft. »Aber du zögerst.« Khaleios beobachtete ihn unergründlich. Die Klinge berührte seinen Hals kaum, er fühlte die Kühle des Metalls wie einen Windhauch.
    »Ich zögere.« Mit einem Ausatmen senkte der Elfenkönig den Dolch und starrte ins Tal. Revyn beobachtete, wie sich das Licht in Khaleios’ Tränen spiegelte. »Unser Volk ist voller Schönheit. Es hat bessere Lebensweisen als das Volk der Menschen! Aber es kommt nur darauf an, wer stärker ist. Wer stark genug ist, um sich durchzusetzen. Die Welt ist nicht gerecht.« Revyn wusste nicht, was er sagen sollte. Die Worte des Königs waren beleidigend, selbst wenn sie vielleicht zutrafen. Doch Khaleios klang so hilflos und verzweifelt, dass Revyn ihn nur bemitleiden konnte.
    »Einst waren wir so viele … Wir hatten einen Platz in der Welt. Aber unsere Zeit läuft ab. Wir schwinden aus der Wirklichkeit wie all die anderen Alten Völker. Auch die Zeit der Dar’ hana wird enden.« Khaleios wandte sich Revyn zu. »Eins nach dem anderen werden unsere Reiche verlöschen. Die großen Königtümer von einst sind gefallen und von den Menschen in Stücke gerissen. An den südlichen Küsten, wohin unser Volk sich einst zurückzog, mussten unsere Ländereien den Häfen der Menschen weichen. Schiffe stören den ewigen Rhythmus der Buchten und Abwässer vergiften die Elemente. Wo unsere stolzen Festungen stehen, regieren nun Könige der Menschen. Selbst das Waldreich kann nicht mehr lange bestehen. Die Bäume fallen und die Nebel weichen. Alle Zauber zerrinnen zu Schemen der Vergangenheit. Eins nach dem anderen erobern die Menschen die Länder der Welt. Einer nach dem anderen sinken wir in Vergessenheit.«
    Revyn hatte bis jetzt nicht gemerkt, wie eine Laterne nach der anderen unter ihm im Dorf erloschen war. Dann verglommen die letzten Lichter in Khaleios’ Augen. Finsternis umfing sie. Es dauerte, bis Revyn im schwachen Dämmerlicht etwas erkennen konnte.
    »Das ist das Schicksal, dem wir uns beugen sollen. Meinst du, ich kann es einfach akzeptieren?« Alle Geräusche der Nacht waren verstummt. Allein Khaleios’ Stimme war zu hören, tief und voll, als befänden sie sich in einem kleinen, dunklen Raum. »Ich bin ein ehrfürchtiger Mann. Ich sehe ein, dass alle Sterblichen Ahiris untertan sind. Aber man soll den Augen und Ohren nicht glauben - man soll dem Herzen und dem Verstand glauben. Ich glaube, dass ein mächtiger Ahirah unser Volk retten kann. Ein Mensch, der an seinem eigenen Fleisch und Blut Rache nehmen wird. Ein Mensch, der nicht zögert, seine Geschwister zu erschlagen und seinen Freund zu erstechen.«
    Revyn versuchte, den Blick vom Gesicht des Königs abzuwenden. Früher hätte er Khaleios vielleicht geglaubt, er sei dieser Ahirah. Aber jetzt wusste er, dass er kein schlechter Mensch war; Yelanah hatte es ihm gezeigt.
    »Ich werde nie wieder jemanden umbringen. Das schwöre ich«, sagte Revyn. »Ich kann also nicht der Auserwählte sein, den du suchst. Und ich hoffe, dass du einen solchen Menschen nie finden wirst.« Er holte Luft. »Aber vielleicht ist er auch gar nicht nötig, um die Elfen zu retten. Das Schicksal mag unsere Ziele vorherbestimmen, aber das ist kein Grund, tatenlos auf die Zukunft zu warten! Yelanah und ich, wir werden um die Drachen kämpfen. Wir lassen uns nicht von Prophezeiungen lähmen! Prophezeiungen sind nur Worte. Aber was zählt, sind Taten. Die Elfen sind nicht machtlos. Vereint eure Stämme. Geht einen Friedenspakt mit den Menschen ein. Ihr könnt alles versuchen! Die Zukunft kann nicht verloren sein. Nur die Gegenwart.«
    Khaleios blickte auf. Hinter den Bäumen stieg feurige, junge Morgenröte empor und verdrängte die Dunkelheit mit den Lanzen der Sonne. »Ich weiß nicht«, flüsterte der König. »Ich weiß es nicht.«
     
    Revyn wurde von Khaleios zurück in die Hütte geführt. Der König ließ ihn mit Yelanah alleine und gab ihm neue Kleider, denn die Sachen, die er trug, waren selbst vor seiner Flucht schon abgewetzt

Weitere Kostenlose Bücher