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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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schaute. Korbinian war nie ein Körperdarsteller. Jetzt schon gar nicht. Jetzt saß er und schaute hinauf zu diesem Gekreuzigten, wie vielleicht noch nie jemand zu dem hinaufgeschaut hat. Der Maler hat die Kreuzigung nicht von vorne gemalt, sondern von vorne links, man sieht alles halb von der Seite. Der Kopf des Gekreuzigten ist im Sterben nach vorne gekippt und so verdreht, dass das Gesicht nach vorne links schaut, also uns anschaut. Der Kreuzbalken reicht von vorne links oben nach rechts hinten hinab. Die an den Balken genagelten Hände wirken so ausgebreitet wie für eine Umarmung. Die Beine in den Knien geknickt, eine fast gefällige Geste. Die von einem einzigen Nagel durchbohrten Füße wirken, als verberge ein Fuß den andern, wie es schüchterne Mädchen tun. Also eine Einladungsgestik durch nichts als Marter und Schmerz. Dazu noch das hellblaue Band, das hinter dem Kopf des Gekreuzigten hervorweht und hinausreicht bis hinab zur linken Hand, das vervollkommnet die Kraft der Einladungsgestik des Gekreuzigten. Und unten, Maria und Johannes, vom Schmerz wie von einem Sturm weggebogen von Christus. Sie können nicht mehr hinaufschauen. Umso einzigartiger, sinnvoller die Einladungsgestik der Arme, der Beine, der Füße und des uns zugedrehten Gesichts. Ich sah es: Korbinian atmete die Martererzählung ein. Dieser Gekreuzigte war Korbinian. Das sah er. Ich sah es auch. Wir brauchten lange, bis wir uns lösen konnten.
    In diesen Monaten hat es nichts gegeben, was Korbinian so brauchen konnte wie diesen von Werner Tübke gemalten Gekreuzigten. Im Hinausgehen zog er mich eng an sich hin. Es war die körperlichste Geste seit langem.
    Roderich, der die Kirche mit uns betreten hatte, verließ sie als Letzter. Wir warteten draußen auf ihn. Korbinian ließ nicht zu, dass ich Roderich holte. Der entschuldigte sich dann. Er habe, weil er zu dem Gekreuzigten hinaufschaute, nicht bemerkt, dass wir gingen. Korbinian sagte: Roderich, wie oft hast du auf mich gewartet! Ich auf dich nie! Es wird höchste Zeit, dass du mich auch einmal auf dich warten lässt. Ich danke dir.
    Ja! Ich hätte Dir längst sagen müssen, wer Roderich ist. Er ist ja nicht nur der, der einmal im Jahr den überflüssigen 39-Rosen-Strauß mit der Dreifingerhand hereinträgt. Er kam durch mich zu uns. Ich habe ihn stehen sehen vor dem KADEWE, vor dem Bahnhof Zoo, als Zeuge Jehovas. Er schaute immer ein bisschen über die Vorbeigehenden hinaus. Eigentlich sah er aus, als höre er Musik. Ich habe ihm immer seine Zeitschriften abgenommen und dafür gespendet. So lange, bis er mich kannte und ansprach. Eine Verabredung. Oben im Bahnhof Zoo. Er hat erzählt: Als Zeuge Jehovas Zeitschriften anzubieten, das ist Karriere. Weiter kannst du es nicht bringen, als von den vorbeieilenden Menschen übersehen zu werden. Das ist nämlich berauschend. Diese von Absichten Versklavten! Mitgerissen sehen die meisten Vorbeitreibenden aus. Und er steht am Ufer des Stroms, der alle und alles mitreißt. Er hat dieses ungeheure Privileg, zuschauen zu können, entzogen zu sein diesem Strom, der Menschen zu Hölzchen macht, die es irgendwohin schwemmt. Dann hat er gefragt, was ich von ihm wolle. Nichts. Aber als Fahrer könnte ich mir keinen vorstellen, der mir lieber wäre. Das hatte ich nicht vor, nicht geplant. Es ist mir in dem Augenblick eingefallen. Er war so überrascht, dass er eine Zeit lang nichts sagen konnte. Ihm kamen Tränen. Er versuchte nicht, es zu verbergen. Dann sagte er, eigentlich habe er Rennfahrer werden wollen. Zweimal sei er Paris–Dakar gefahren. Dann in Michael Schumachers Team. Mehr wollte er offenbar nicht sagen.
    Der Rest war leicht organisierbar. Jetzt ist er schon acht Jahre bei uns. Und hilft mir im Garten. Er ist der einzige Mensch, den ich in meinem Garten ertrage.
    Auf der Rückfahrt aus dem Harz schlief Korbinian sofort ein und schlief dann, bis wir in Zehlendorf waren.
    Für heute
    Deine ihre Hände bis zu Dir streckende Freundin

    PS Noch gilt: Keine Antwort.

    Von meinem iPhone gesendet

16
    Braeburn, 2. Juni 2011
    Lieber Freund,
    es ist geschafft. Oder: Das ist geschafft. Der Port im Schlüsselbein, durch den sie Korbinian monatelang die Körper- und Antikörper beibrachten, ist geschlossen. Korbinian lebt. Und ich mit ihm. Wir sind in Whitehorse gelandet, Roderich holte uns ab, mit einem Pick-up-Truck. Am Eingang zum Robert Service Campground übernahmen wir die Räder und den zweiräderigen Trailer, der an Korbinians Rad angehängt wird.

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