Das dritte Leben
des Unfalls seinen Anfang nahm, als die Angst zu sterben mir die verhängnisvollen Worte auf die Lippen trieb.
Das dritte Leben – was wird es mir bringen, dachte sie.
Als sie sich am Abend zu Hause sahen, brachte weder Hilde noch ihr Mann das Gespräch auf das merkwürdige Geschehen des späten Nachmittags. Stumm saßen sie am Abendbrottisch. Jeder hoffte, daß der andere nicht ahnte, was er wußte.
Sabine sah ihre Eltern an und begann zu lachen.
Oma Günders hob die Augenbrauen. »Was gibt's denn, Sabine?«
»Die beiden sehen aus, als wären sie einem Gespenst begegnet«, lachte Sabine.
»So?« Die Oma betrachtete Richard und ihre Tochter Hilde und schüttelte den Kopf. »Tatsächlich, ihr seht beide aus, als kämt ihr von einem Begräbnis.«
Richard zwang sich zu einem Lächeln. »Ich hatte heute einen schweren Tag im Büro.«
Auch Hilde lachte, deutlich ein wenig verkrampft. »Ich fühle mich recht gut. Ich habe ein bißchen Kopfschmerzen, aber ihr wißt ja …«
Hilde hatte es sich angewöhnt, ihre Schädelverletzung als Entschuldigung vorzuschieben, wenn sie schlechte Laune hatte oder wenn es irgend etwas gab, über das sie absolut nicht sprechen wollte.
»Übrigens«, sagte Richard zu seiner Schwiegermutter gewandt und offenbar bemüht, ein harmloses Gespräch in Gang zu bringen, »ich muß morgen geschäftlich ins Rheinland. Wenn du Lust hast, kannst du mitfahren. Ich setze dich dann zu Hause ab.«
»Aber das ist ja wunderbar«, rief Thea Günders. »Dann brauche ich nicht mit dem Zug zu fahren. Ihr wißt ja, daß ich die Zugfahrerei nicht ausstehen kann.«
»Abgemacht, Oma. Du mußt aber um Punkt neun bereit sein!«
»Ich bin! Mit Tornister und Marschverpflegung«, lachte die alte Frau. »Ach ja, das erinnert mich an meinen Mann. Der gute Josef! Jedes Jahr hat er die Gepäckmärsche mitgemacht, damals, in den dreißiger Jahren. Er hatte einen richtigen Marschiervogel. Und das Sportabzeichen hat er auch jedes Jahr neu gemacht.« Sie lächelte ein wenig wehmütig. »Ja, und dann haben sie ihn mit seinen fünfundvierzig Jahren auch prompt noch zur Infanterie eingezogen, als es richtig losging.«
Von der Infanterie war Josef Günders nicht zurückgekehrt. Was zurückkehrte, war das Foto von einem Grab in der Ukraine, das ein Kamerad aufgenommen und Thea Günders geschickt hatte. Und so war sie mit ihren vierundvierzig Jahren schon Witwe gewesen, eine Frau allein mit einer jungen Tochter, die ein Jahr später selbst heiraten sollte.
Plötzlich wurden die Erinnerungen wieder wach, plötzlich standen die Geister der Vergangenheit bei ihnen allen und blickten ihnen über die Schulter.
Thea Günders, Richard, Hilde – sie dachten an damals, an jene schlimmen und doch schönen Tage. Sie dachten daran, daß damals alles begonnen hatte – oder zu Ende gegangen war.
Richard dachte an die Hochzeit in dem kleinen Städtchen Mewe, an den herzzerbrechenden Abschied, als er wieder an die Front mußte.
Thea dachte an den letzten Urlaub von Josef, als er mit einem riesigen Freßpaket nach Hause gekommen war, an die Nacht im Luftschutzkeller auf dem schmalen Feldbett, sie beide ganz allein, zwei Menschen, die der Krieg noch einmal jung gemacht hatte.
Und Hilde dachte an die Schreckensnacht in Danzig, als sie ihre Tochter verloren hatte.
Die einzige, die von Erinnerungen unbelastet war, war Sabine.
Am nächsten Morgen, pünktlich um neun, fuhr Richard los. Oma Günders saß stolz neben ihm, die Schachtel mit dem neuen Hut, den Richard ihr ein paar Tage zuvor in der Theatinerstraße gekauft hatte, auf dem Schoß.
Die Autobahn war ziemlich frei, so daß Richard gut vorankam. Schon um halb drei Uhr nachmittags war er in Köln. Er setzte seine Schwiegermutter an dem kleinen Haus im Königsforst ab, in dem die Günders schon seit 1920 wohnten, und fuhr dann zu seiner Besprechung in die Stadt.
Diese Besprechung dehnte sich so lange aus, daß es neun Uhr abends wurde, ehe alles klar und abgemacht war.
Richard hatte eigentlich vorgehabt, noch am selben Abend wieder nach München zurückzukehren, denn für den nächsten Tag war die dringende Besichtigung eines Industrie-Baugeländes vorgesehen; aber er war doch zu müde, um noch einmal fünfhundert Kilometer, diesmal auf der nächtlichen Autobahn, durchzustehen. Er fuhr also kurz entschlossen nach Königsforst, um die Nacht im Hause seiner Schwiegermutter zu verbringen.
Thea Günders machte ihm ein echt rheinisches Abendbrot: Kölner Kalbsleberwurst
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