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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Cordes
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daumenhoch auf Eifeler Bauernbrot, eine dicke Scheibe Holländer Käse mit gehackten Zwiebeln auf offenem Brötchen und dazu einen Krug mit dem leichten süffigen Kölsch.
    Als Richard satt und müde war, verzog er sich zufrieden in das Jungmädchenzimmer Hildes, wo er schlafen sollte. Er kleidete sich aus, legte sich ins Bett. Die Augen fielen ihm zu.
    Aber plötzlich waren die Gedanken da: In diesem Haus hatte Hilde auf ihn gewartet, bis er aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war. In diesem Zimmer hatte sie mit Sabine gelebt, bis er sie nach München geholt hatte.
    Wie lange war das schon her?
    Eine Frau allein, die verzweifelt auf ihren Mann wartet, mit ihrem kleinen Töchterchen.
    Und er?
    Sibirien, das Lager in der Taiga. Neun Monate im Jahr Winter und drei Monate Sommer mit dem Flammenatem der Sonne. Mückenschwärme, die sich auf jeden stürzten, der sich nach draußen, in die Wildnis dieses unheimlichen Landes, wagte, Schlangen im Heidekraut, giftige Spinnen in den Rinden der Bäume, die sie fällen mußten.
    Ein Jahr lang. Gott sei Dank nur ein Jahr lang.
    Und dann Dnjepropetrowsk, der Bau am Staudamm, den die Deutschen gesprengt hatten. Peitschenhiebe von gelbgesichtigen Kalmücken oder Tataren – wer wußte schon, wie sie hießen.
    Und dann endlich frei.
    Ein Schein, kostbarer als aller Aktienbesitz in der Welt: der Entlassungsschein. Entlassen aus der Gefangenschaft – 1946.
    Moskau … Warschau … Frankfurt an der Oder …
    Wind wehte den Duft der Heimat herüber. Und immer noch die roten Sterne, die Wattejacken, die ›Balalaikas‹, wie sie die russischen Maschinenpistolen nannten.
    Drüben eine Allee, Ahornbäume im ersten Lohgelb des Herbstes. Wind kräuselte das Blattwerk. Fuhrwerke schwankten unter der Last der Getreideballen; die erste ordentliche Ernte nach dem Krieg.
    Die Bauern schauten nicht herüber. Die Pferde hatten glanzloses Fell. Die Russen waren jung, gelangweilt, Rekruten, die den Krieg schon nicht mehr mitgemacht hatten.
    Die Straßen waren noch von den Einschlägen der Granaten genarbt. Die Bäume manchmal in Scheitelhöhe abrasiert. Tote Stümpfe.
    Verrostete Autowracks in den Feldern. Tafeln in kyrillischer und deutscher Schrift: »Achtung Minen!« Darüber oder darunter ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen.
    So lange war das schon her.
    Aber damals war es noch nicht lange vorbei.
    Damals war der Krieg noch hinter der nächsten Ecke, man hörte noch seinen Nagelschuhschritt in der Nacht.
    Der Krieg ist aus. Woina kaputt, riefen die Russen.
    Denkste.
    Der Krieg war nicht aus. Nicht für die Gefangenen.
    Der Entlassungsschein war für die Zone ausgestellt. Russenzone nannten sie es. Und von da ging nichts in den Westen.
    Nitschewo. Bleib hier. Bleib in ›Dräsden‹.
    Dresden, geschändet. Von zweitausend – oder waren es dreitausend, oder gar nur fünfhundert – fliegenden Festungen. Dreihunderttausend Tote, sagten die einen. Eine halbe Million die anderen.
    Pesthauch heute noch über der Stadt. Heute, das ist am 22. September 1946.
    Und er soll nicht zu Hilde können? Hilde, die mit dem Kind in Köln ist?
    Einmal hat er schreiben dürfen, einmal hat er von ihr eine Karte bekommen. Sie ist bei ihrer Mutter in Köln. Und er ist in die Zone entlassen worden.
    Ich werde es schaffen.
    Nachts auf den Landstraßen. Tagsüber im Gebüsch geschlafen.
    Nur nicht gesehen werden. Von niemandem.
    Gegen den Durst das Wasser der Bäche.
    Gegen den Hunger Kartoffeln vom Feld.
    Die Elbe. Nacht.
    Er lag im Schilf. Mücken zerbissen ihm den Nacken. Er wagte kaum zu atmen, lauschte auf die Geräusche am Fluß.
    Da waren die Schritte, die er vorhin schon gehört hatte.
    Sie kamen näher.
    »Papyross'?« fragte eine Stimme.
    Brummend antwortete eine andere.
    Ratschen eines Zündholzes.
    Richard duckte sich noch tiefer. Die Feuchtigkeit des Bodens kroch bis tief in seine Knochen.
    Etwas klirrte. War wohl eine MP.
    Dann wieder die Schritte.
    Sie kamen über den Uferpfad, hielten an dem Steg.
    »Amerikanski«, sagte der eine, »drüben liegen die Amerikaner, und hier liegen wir. Ich frage dich, Brüderchen, warum?«
    »Nitschewo«, sagte der andere. »Sie werden schon wissen, warum.«
    »Ob die wirklich Krieg mit uns machen wollen, wie der Genosse Kommissar beim Vortrag gesagt hat?«
    »Nitschewo, mir soll's egal sein.«
    »Du hast keine Frau.«
    »Njet.«
    Die beiden gingen weiter. Die Schritte verhallten.
    Langsam ließ Richard seinen angehaltenen Atem aus den Lungen. Vorsichtig kroch er

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