Das dritte Leben
durch das Schilf. Ein Frosch quakte.
Endlich das Ufer. Kies unter seinen Händen. Es knirschte.
Ein Stein kollerte, kullerte, klackte. Verdammt noch mal.
Er richtete sich auf, lief geduckt zum Wasser.
Rock runter, Hemd runter, Hose runter.
Alles zu einem Bündel zusammengerollt. Schuhe dazwischen, Löffel, Eßgeschirr. Messer zwischen die Zähne.
Das Wasser war eiskalt. Die Strömung nicht so schnell, wie er gedacht hatte.
Von drüben hallte Musik herüber. Drüben, da brannte auch Licht.
Etwas orgelte, dudelte. Er konnte es deutlich verstehen: »Don't fence me in …«
Ein alter Schlager der Amis. Aber für ihn ganz neu: Sperr mich nicht ein.
Er grinste in der Dunkelheit, während das Wasser ihm bis zur Brust, schließlich bis zur Schulter reichte.
Dann schwamm er.
Westen. Nach Westen.
Mit kräftigen, wilden Stößen.
Verzweifelt? Nein.
Voller Freude. Trunken vor Freude.
Ich komme. Ich komme nach Hause.
Drüben, im Westen, da wartet Hilde. Und mein Kind. Da wartet meine kleine Sabine.
Er war in der Mitte des Stroms. Dann fast drüben.
Plötzlich Stimmen.
Diesmal vom Ami-Ufer.
Jemand rief. »Hey …«
Dann knallte es dumpf. Eine zischende Spur fuhr in den Himmel. Weiß, glühend.
Dann explodierte es über ihm. Eine rosarote Leuchtkugel. Wie das glühende Ende einer Zigarette.
Er schwamm um sein Leben.
Gebrüll bei den Russen.
Eine MP-Garbe ratterte ins Wasser.
Dann Boden unter den Füßen. Laufen. Keuchende Lungen. Weiter.
Ein Gebüsch. Hinein. Wald.
Niemand rief mehr. Niemand schoß.
Hinter ihm dudelte es immer noch: »Don't fence me in …«
Richard stand auf, ging zum Fenster.
Und hier, in diesem Zimmer, hatte er dann Hilde gegenübergestanden. Sie in die Arme genommen. Hier in diesem Zimmer hatte sie mit Sabine auf ihn gewartet.
Plötzlich schlug sein Herz ganz hart. Hier mit Sabine.
Wenn es ein Geheimnis gab, um Sabine, um Hilde? Wenn wirklich etwas mit seiner Tochter war …
Das Blut pulste in seinen Schläfen.
Er warf seinen Bademantel über, trat zu der großen Kommode, in der noch alte Sachen von Hilde aufbewahrt wurden – ihre Jungmädchenkleider, ihre Karnevalskostüme, erste Liebesbriefe, die er ihr geschrieben hatte, alte Fotoalben, die ein schmächtiges, blondes Mädchen zeigten, mit mageren Beinen und riesigen blauen Augen.
Er wühlte in Papieren, vertrockneten Blumen. Zwei Schubladen voll mit dem Krimskrams vergangener Jahrzehnte.
Die unterste Lade war abgeschlossen.
4
Richard rüttelte an dem Griff der Schublade, aber sie gab nicht nach. Er ging zum Nachttisch, nahm sein Taschenmesser, klappte es auf. Er steckte die harte Stahlklinge zwischen Schublade und Rahmen, tastete sich vorsichtig an das Schloß heran, suchte mit der Klingenspitze die Nase des Verschlusses, drückte sie mit einem kräftigen Ruck nieder. Das Schloß sprang auf.
Er zog die Schublade heraus – Flicklumpen, verblichene Wollstränge, ein Paar durchlöcherte Tennisschuhe.
Das braungeäderte Packpapier, mit dem die Schublade ausgelegt war, verrutschte unter seinen ungeduldigen Händen, er spürte darunter eine Verdickung.
Er riß das Papier weg. Ein gelbverblichener Briefumschlag kam zum Vorschein, unverschlossen.
Er enthielt Papiere, zwei Briefe und ein Dokument.
Die Briefe waren aus den Jahren '45 und '46. Sie trugen die Unterschrift: Alexa.
Er erinnerte sich vage – Alexa war eine Freundin Hildes gewesen, im Krieg. Er hatte sie ein-, zweimal gesehen.
Er faltete das Dokument auf. Es war eine Geburtsurkunde. Sie lautete auf den Namen Renate Berglund, geboren am 17. Juni 1944 in Marienburg.
Richard stand da, starrte verständnislos auf das Papier. Er ging zum Nachttisch zurück, hielt das Dokument ins Licht.
Renate Berglund –
Und da fiel ihm ein, daß Alexa mit Familiennamen Berglund hieß. Ihr Mann war Hauptmann bei der Panzertruppe gewesen. Ja, jetzt erinnerte er sich daran, und 1943, schon im Frühjahr, war er als vermißt gemeldet worden.
Ob er noch lebte? Ob er zurückgekommen war? Und was war aus Alexa geworden? Mit einemmal wurde Richard bewußt, daß Hilde nie mehr von ihr gesprochen hatte. Vielleicht lebte auch sie nicht mehr?
Richard hob die Schultern. Aber was sollte diese Geburtsurkunde in Hildes Kommode, die Geburtsurkunde von Alexas Tochter? Er blickte noch einmal auf das Datum: 17. Juni 1944.
Plötzlich durchfuhr es ihn glühendheiß. Reinhard Berglund war seit dem Frühjahr 1943 vermißt, Alexas Tochter aber im Sommer 1944 geboren worden.
Er setzte
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