Das dritte Leben
sich aufs Bett. Mit zitternden Händen entfaltete er Alexas Brief an Hilde.
Liebe Hilde!
Ich sitze hier am Küchentisch und versuche, meine Gedanken zu sammeln, um Dir einen vernünftigen Brief schreiben zu können. Aber ich kann es nicht. Natürlich hatte ich Dir versprochen, mich nie nach Renates Schicksal zu erkundigen. Natürlich hatte ich Dir geschworen, niemals ein Recht auf mein Kind, das Du in jener schrecklichen Nacht auf der Ostsee an Dich genommen hast, geltend zu machen. Aber ich halte es einfach nicht mehr aus. Ich bin so allein, ich arbeite hier auf den Feldern, und wenn ich in der Sonne stehe und mir fast das Kreuz bricht, dann denke ich an Dich – und an mein Kind, das jetzt Dein Kind ist, an meine Renate, die jetzt Deine Sabine ist. Ich will mich nicht beklagen, versteh mich bitte richtig. Aber der Gedanke an mein Kind läßt mir keine Ruhe. Manchmal habe ich das Gefühl, daß ich alles falsch gemacht habe. Warum habe ich Renate nicht behalten? Vielleicht kommt Reinhard nie mehr zurück. Ich habe bis heute nichts von ihm gehört. Ich bin so allein, selbst hier, bei meinen Verwandten. Renates Vater hat sich damals ›abgemeldet‹, wie du ja weißt. Er ist einfach verschwunden, hat nie mehr etwas von sich hören lassen. Ich sitze hier auf dem Bauernhof in Ostfriesland und warte, daß irgend etwas geschieht. Ich weiß nur nicht, was.
Bitte, es ist eine ganz große Bitte, könnte ich mein Kind, meine kleine Renate, ein einziges Mal sehen?
Deine Alexa
Richard tastete nach seinen Zigaretten. Seine Finger zitterten, als er das Zündholz anriß. Er stand auf, ließ den Brief zu Boden flattern, ging zu seiner Reisetasche. Er nahm die silberne Reiseflasche heraus, die Sabine ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Er schraubte sie auf, setzte sie an die Lippen. Der Bourbon brannte ihm heiß in der Kehle. Er mußte husten.
Dann ging er zum Bett zurück, setzte sich wieder und nahm den zweiten Brief Alexas auf.
Liebe Hilde!
Gott läßt Wunder geschehen! Reinhard ist zurückgekommen! Mein Mann ist wieder da! Ich habe stundenlang geweint vor Freude – und vor Schmerz. Er sieht gut aus, ist ganz sonnenverbrannt, er war in einem Lager in Texas, wo damals viele vom Afrikakorps hingeschafft worden sind. Er ist zweimal ausgebrochen, um nach Mexiko zu gelangen, aber beide Male hat man ihn geschnappt. Die Amis haben ihn in Handschellen – stell Dir das vor! – zusammen mit einem Haufen anderer ›aufsässiger‹ Kriegsgefangener aus den Staaten nach Deutschland zurückgeschafft. Genau am 3. Juni stand er vor mir, hier in Friesoythe. Mein Gott, ich bin fast in Ohnmacht gefallen. Ich kam gerade vom Unkrautjäten vom Feld, und da stand er, jung, hübsch, ernst, mein Mann! Ich kann Dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin. Und ein Geheimnis verrate ich Dir: Ich bin seit der ersten Nacht, als er wieder da war, schwanger!
Nun meine Bitte: Du hast damals nicht auf meinen konfusen Brief geantwortet – bitte, tu es auch diesmal nicht. Es ist besser, wenn wir beide all das vergessen, was geschehen ist! Renate, ich meine Sabine, ist Dein Kind, bleibt Dein Kind, und Reinhard wird niemals etwas davon erfahren. Auch Dein Mann soll nie wissen, daß Renate nicht seine Tochter ist. Die Wahrheit würde jedem von uns nur Unglück bringen. Laß uns neu anfangen! Das heißt für uns beide: Wir müssen vergessen, was damals geschah. Und für immer darüber schweigen. Ich will mit Reinhard ein neues Leben beginnen, ich will ihm treu sein, will nur noch ihm gehören, nichts aus der Vergangenheit soll zwischen uns stehen.
Hilde, ich wünsche Dir und Sabine alles Gute, ich wünsche Dir und dem Kind – Deinem Kind – eine glückliche Zukunft. Ich weiß, Du hast einen guten Mann. Wenn er aus der Gefangenschaft zurückkommt – sei ihm eine gute Frau. Verstehe es zu schweigen. Denn im Schweigen liegt unser aller Rettung.
Leb wohl.
Deine Alexa
Mit einemmal konnte Richard nicht mehr atmen, bekam keine Luft mehr.
Er sprang auf, lief zum Fenster, riß es auf. Kühl leckte die Nachtluft sein Gesicht.
Mein Gott! Er hätte alles ertragen können, jeden Schlag hätte er hinnehmen können – nur nicht das Wissen, daß Sabine nicht seine Tochter war.
Sabine war nicht Sabine. Sie hieß Renate.
Renate – heulte das Dreiklanghorn des Alfa Romeo, der Richard auf der Autobahn überholte.
Renate. Und mein Kind, die wirkliche Sabine? Was ist mit ihr? Wo ist sie? Ist sie tot?
Er trat das Gaspedal durch. Noch zweihundert
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