Das dritte Leben
Geburtsschein von Renate Berglund überhaupt aufbewahrt habe und die Briefe von Alexa. Aber man tut manchmal verrückte Dinge. Wenn uns einmal etwas passiert, dachte ich, dann kann Sabine, ich meine Renate, vielleicht ihre wirklichen Eltern suchen.« Verzweifelt schüttelte sie den Kopf, wandte sich dann ab, ging zum Schreibtisch zurück, stützte sich mit beiden Händen auf.
»Tu nichts, Richard, ich flehe dich an.«
»Ich muß. Mir ist der Gedanke unerträglich, daß Sabine irgendwo lebt und vielleicht unsere Hilfe braucht.«
»Sie ist, falls sie noch lebt, heute dreiundzwanzig Jahre alt, Richard! Sie ist ein erwachsener, selbständiger Mensch! Ja, ich habe Fehler gemacht, vielleicht war es ein Fehler, dir nicht direkt zu gestehen, was passiert war, aber Sabine braucht uns nicht. Renate braucht uns – sieh das doch ein!«
Richard zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. »Ja, Renate …« Ratlos ließ er den Namen verklingen. »Was sollen wir nur tun, Hilde, was sollen wir dem Kind sagen?«
»Gar nichts«, sagte das Mädchen von der Tür her.
Richard fuhr herum.
Seine Tochter – das Mädchen, das er so lange für seine eigene Tochter gehalten hatte – stand dort, blaß, mit zuckendem Mund.
»Es tut mir leid«, sagte sie, »aber ihr habt so laut gesprochen, daß man selbst auf dem Flur jedes Wort verstehen konnte.«
Hildes Wangen färbten sich erst dunkelrot, dann wurden sie blaß. Ihre Hände begannen wieder unkontrolliert zu zittern.
»Sabine …«
»Renate!« verbesserte das Mädchen sie.
Richard trat einen Schritt auf sie zu. »Es tut mir leid«, sagte er, »ich konnte nicht ahnen, daß du im Hause bist.«
»Was ändert das schon?« fragte das Mädchen.
»Sabine!« Richard legte ihr beide Hände auf die Schultern. »Du bist meine Tochter! Hörst du – es wird sich nie etwas ändern zwischen uns! Verstehst du mich?«
»Richard«, flüsterte sie, »Richard … du bist nicht mein Vater. Du bist – ein fremder Mann!«
Es war schlimmer, als wenn sie ihn ins Gesicht geschlagen hätte. Sein Kopf drehte sich zur Seite, als wolle er einem neuen Schlag ausweichen. Sein Blick traf Hilde, die in sich zusammengesunken in dem Sessel vor seinem Schreibtisch saß.
»Hilde! So sag ihr doch, daß alles bleibt wie bisher, sag ihr doch, daß sich nichts ändern wird.«
»Es ist aus«, murmelte Hilde, »ich wußte es.«
Sabine reckte sich hoch auf. Und dennoch wirkte sie so zart, so zerbrechlich, so hilfebedürftig, wie Richard sie noch nie gesehen hatte.
Er riß sie an sich, preßte sie an sich. Er spürte den heftigen Schlag ihres Herzens.
»Sabine«, murmelte er ihr ins Haar hinein, in das kastanienbraune weiche Haar. »Sabine, mein Kind, denk doch an all die Jahre.«
Sabine stand steif, mit hängenden Armen, erwiderte seine Umarmung nicht.
»Sabine!« Er packte sie bei den Schultern, schüttelte sie.
»Laß mich«, murmelte sie. »Laß mich in Ruhe.« Sie machte sich von seinen Händen frei, trat auf Hilde zu.
»Weshalb hast du all die Jahre gelogen?« fragte sie. »Weshalb hast du mir nicht rechtzeitig genug die Wahrheit gesagt? So wie Richard nach seiner Tochter hätte suchen können, so hätte ich nach meiner Mutter – und meinem Vater suchen können!«
»Sabine!« Hilde sprang auf. »Bin ich dir keine gute Mutter gewesen? Ich habe dich mehr geliebt, als ich ein leibliches Kind hätte lieben können! Wenn du schon alles mitangehört hast, vergiß dann doch nicht, was ich durchgemacht habe! Denk doch an die Jahre der Qual, die ich ausgestanden habe, nach dem Krieg! Aber dann, auf einmal, habe ich gar nicht mehr daran gedacht. Ich habe nur noch an dich als mein richtiges, wirkliches Kind gedacht! Du bist doch unser Kind. War ich jemals nachlässig, jemals egoistisch, habe ich dir je Böses zugefügt, habe ich dir nicht alles gegeben, was eine Mutter geben kann – und vielleicht noch ein bißchen mehr?«
»Hör auf!« rief Sabine. Sie biß sich auf die Lippen. »Hör auf«, flüsterte sie dann noch einmal. »Warum mußtest du das alles aufrollen? Warum nur? Warum konntest du nicht schweigen? Dann wäre alles noch gut!«
»Ich habe – ich hatte Angst. In jener Nacht nach dem Unfall, ich glaubte, ich müßte sterben.«
»Ja, ja, ja!« schrie Sabine. »Das hast du Richard schon gesagt! Aber warum konntest du dein verdammtes Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen?«
»Sabine!« Richard war mit zwei Schritten bei ihr, packte ihren Arm.
»Du tust mir weh!«
»Komm zur
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