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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Cordes
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Vernunft. Warum quälst du deine Mutter so?«
    »Sie ist nicht meine Mutter!« Etwas wie Haß flackerte in Sabines Augen auf. »Sie ist nicht meine Mutter, und wenn sie mir tausendmal ihre Verdienste vorrechnet!«
    Richard ließ seine Hand sinken.
    Sabine lief zur Tür.
    »Ich will euch nie wiedersehen«, rief sie, »nie mehr!«
    Die Tür flog hinter ihr ins Schloß.
    »Richard«, sagte Hilde, »Richard, hol sie zurück!«
    Draußen regnete es. Widerlicher, dünner Nieselregen, vermischt mit dem ersten Schnee.
    Richard eilte den Plattenpfad entlang, war auf der Straße. Hinten lief sie, eine schmale Gestalt im grauen Zwielicht des Wintermorgens.
    »Sabine!«
    Er lief hinter ihr her.
    Sabine hatte die Hauptstraße erreicht, hastete über die Fahrbahn, verschwand unter den Ulmen, auf der anderen Seite.
    Dunstiges Licht der Allee. Sabine war nicht mehr zu sehen.
    Richard blieb stehen. Sein Herz klopfte ihm hoch im Hals. Er mußte sie finden. Er mußte sie zurückholen. Er lief weiter, nach rechts.
    »Sabine!«
    Sein Ruf verhallte im Dröhnen der Autos, welche die Allee herunterkamen.
    Die Kneipe an der Ecke. Er warf einen Blick durch die Scheiben. Nur drei Burschen an einer Musikbox.
    Er lief, als gehe es um sein eigenes Leben.
    Es geht um dein Leben, dachte er. Um dein ganzes Leben.
    Da sah er sie endlich wieder, weit unten, auf einer Bank, vornübergebeugt, den Kopf zwischen den Schultern, das Gesicht in den Händen vergraben.
    Er war bei ihr. Legte seinen Arm um ihre Schultern.
    »Sabine, komm nach Hause!«
    Sie schüttelte den Kopf. Blieb stumm, als er ihre Hände nahm und in seinen Händen warmzureiben versuchte.
    »Hör mir einmal zu. Was uns getroffen hat, ist schlimm. Für dich und für mich auch. Aber – wir können es wiederaufbauen! Du und ich!«
    Sie blickte hoch, sah ihm in die Augen.
    »Ja – du und ich«, murmelte sie, »aber nicht Hilde.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich will sie nicht mehr sehen.«
    »Sie ist deine Mutter.«
    Sabine schüttelte den Kopf.
    »Sabine! Komm zu uns zurück!«
    »Nein. Nicht zu euch – nur zu dir«, sagte sie.
    5
    Sie saßen auf der einsamen Bank, mitten im Schneeregen, unter den alten Ulmen der Hardt-Allee. Es war kalt, sie waren beide durchnäßt, aber davon spürten sie nichts.
    Sie sahen sich an.
    Vater und Tochter.
    Vater? – Tochter?
    »Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte Richard. »Du kannst doch nicht im Ernst von mir verlangen, daß ich zwischen dir und Hilde wähle? Zwischen meiner Tochter und meiner –«
    »Ich bin nicht deine Tochter«, unterbrach Sabine ihn.
    »O doch«, erwiderte er, mit einemmal hob sich seine Stimme. »In meinen Papieren befindet sich dein Geburtsschein. Der Geburtsschein von Sabine Gertner, geboren am 26. März 1944 in Mewe an der Weichsel. Du bist meine Tochter.«
    Sabine beugte sich vor, und ihre honigfarbenen Augen schillerten fast grün. »Du kannst mich nicht zwingen – zu nichts, Richard.«
    »Ich bin vor dem Gesetz dein Vater. Du kannst noch nicht einmal beweisen, daß das, was Hilde erzählt hat, stimmt. Ich kann alles abstreiten. Ich kann auch sagen, seit dem Unfall rede sie manchmal wirres Zeug.«
    »Ach«, Sabines schmales Gesicht verhärtete sich, »das hätte ich dir nicht zugetraut, Richard.«
    »Nenn mich nicht dauernd beim Vornamen! Ich bin dein Vater!«
    »So?« Sie berührte seine Wange. Es durchzuckte ihn wie eine siedende Flamme. Sein Mund wurde trocken. Seine Kehle war wie zugeschnürt – von einer Sekunde auf die andere.
    Die Hand des Mädchens war nicht die Hand seiner Tochter. Das war nicht die vertraute Berührung durch die Hand seines Kindes. Das war die Liebkosung durch die Hand einer Fremden, die Hand eines hübschen jungen Mädchens, das dicht neben ihm saß, dessen Wärme er spüren konnte, dessen Nähe er mit einemmal fremd und verwirrend, fast erschreckend empfand.
    Sabine ließ ihren Blick nicht von ihm. »Du hast immer noch die Wahl«, sagte sie. »Immer noch die Wahl zwischen deiner Frau und mir.«
    »Und wie stellst du dir das vor?«
    »Dann will ich alles vergessen, was ich gehört habe. Ich will bei dir leben als deine Tochter. Ich werde …«, sie schluckte, »nun, ich werde dir neben meiner Arbeit den Haushalt führen … und wir werden dann schon sehen, wie es weitergeht.«
    Richard lachte. Es war ein freudloses, hartes Lachen.
    »Wir werden dann schon sehen …« Er schüttelte den Kopf.
    »Oder willst du, daß ich für immer aus deinem Leben verschwinde?«
    Richard sah sie an.

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