Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Cordes
Vom Netzwerk:
Gesicht.
    »Du hast …«, ihre Worte verloren sich.
    »Ja, ich habe! Ich habe die Schublade aufgebrochen, um mir Gewißheit zu verschaffen.«
    Hilde schwieg. Sie setzte sich langsam in den Sessel vor Richards Schreibtisch, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.
    »Nun, willst du es mir nicht erzählen, alles erzählen?« fragte Richard, und mit einemmal war seine Stimme ganz ruhig, fast gelassen.
    »Ja«, sagte Hilde, »ich will dir alles erzählen.«
    Und sie tat es. Eine Stunde lang. Er unterbrach sie nicht ein einziges Mal.
    »Warum nur?« fragte Richard dann. »Warum hast du mich über zwanzig Jahre lang belogen?«
    »Ich konnte es dir nicht erklären.«
    »Du hättest es mir sofort sagen sollen. Sofort, als ich aus der Gefangenschaft zurückkam. Meinst du, ich hätte dann Renate weniger liebgehabt? Sie wäre dann meine Tochter gewesen, genauso wie Sabine. Damals, im Chaos der Nachkriegsjahre, hätte ich jeden Schlag ertragen können. Wir waren es doch gewöhnt, Schläge einzustecken. Damals hätte ich mich leichter mit dem Gedanken abgefunden, daß Renate nicht meine leibliche Tochter ist. Aber jetzt – ich habe doch einundzwanzig Jahre lang mit ihr zusammengelebt, sie einundzwanzig Jahre lang als meine Tochter angesehen. Und nun ist das alles vorbei?« Seine Stimme klang jetzt zornig, verzweifelt. »Und all die Jahre lang hast du nichts getan, um unsere richtige Tochter zu finden?«
    Hilde hob hilflos die Hände, sah Richard an. »Aber – Sabine ist ertrunken.«
    »Hast du es gesehen, hast du es ganz genau gesehen?«
    Verwirrt schüttelte sie den Kopf. »Sie ist mir aus den Armen gerissen worden und zehn Meter tief in die eiskalte See gestürzt! Sie muß gleich ertrunken sein. Ich wollte zurück, wieder an Land, aber da war die Planke schon eingezogen, ich wollte hinter Sabine herspringen, aber die Leute hielten mich fest.«
    Bisher hatte Hilde mit einer trockenen, klanglosen Stimme gesprochen. Im Laufe der Jahre waren die Tränen versiegt, die Selbstanklagen verstummt. Doch nun brach es aus ihr heraus. Sie weinte, ihre Hände zitterten, ein krampfartiges Zucken schüttelte ihren ganzen Körper.
    Richard tat nichts, um sie zu trösten. Er stand da und starrte sie beinahe feindselig an.
    »Du bist also nicht sicher? Du kannst nicht beschwören, daß Sabine ertrunken ist? Du weißt nicht, ob sie nicht doch gerettet wurde? Du hast selbst gesagt, daß eine Menge Ruderboote im Hafen herumkreuzten. Wie willst du wissen, ob unser Kind nicht von einem der Boote gerettet wurde?«
    Hilde schüttelte den Kopf.
    »Und du hast nichts getan, um dich nach dem Schicksal unseres Kindes zu erkundigen! All die Jahre hast du gewartet, sie ungenutzt verstreichen lassen und mir und dir selbst vorgespielt, wir besäßen unsere Tochter noch.«
    »Sie kann nicht mehr leben. In dem eisigen Wasser sind selbst erwachsene Männer ertrunken.«
    »Kannst du beschwören, daß sie ertrunken ist?«
    »Nein«, schluchzte Hilde.
    »Durch dein Schweigen in all den Jahren hast du das, was ein schwerer Schicksalsschlag war, für uns alle zu einer Katastrophe werden lassen. Wir hätten Sabine suchen können, über das Rote Kreuz. Du hast doch selbst erzählt, daß alle Kinder Erkennungskarten um den Hals trugen mit Namen, Geburtsdatum und Herkunftsort. Irgendwo hätten wir eine Spur von ihr entdeckt, glaube es mir, damals, in den ersten Nachkriegsjahren. Aber jetzt? Heute? Wo soll ich da mit meiner Suche anfangen?«
    Ungläubig sah Hilde zu ihm auf. »Du willst Sabine suchen?«
    »Ja, was hast du dir denn gedacht? Hast du geglaubt, ich würde tatenlos hier herumsitzen?«
    Hilde stand auf, kam auf ihn zu. »Richard«, flüsterte sie, »Richard, du willst uns doch nicht alle ins Unglück stürzen? Du willst doch nicht auch Professor Wiegand und seine Frau, die von nichts etwas ahnt, alle diese Menschen und Sabine –«
    »Welche Sabine?« fragte er zornig.
    Hilde schluckte. »Renate. Aber sie ist doch Sabine!« Auch ihre Stimme hob sich jetzt. »Sie ist unsere Tochter, das kannst du nicht abstreiten! Wir haben sie erzogen wie unsere Tochter, all die Jahre lang ist sie unsere Tochter gewesen, das kannst du doch nicht ungeschehen machen. Kannst du denn nicht vergessen?« Sie trat ganz dicht an ihn heran. »Richard, ich flehe dich an«, ihre Augen konzentrierten sich auf seinen Mund, aus dem sie alle Erlösung von ihren Qualen erwartete, ihre Absolution, »ich flehe dich an, Richard, vergiß doch, was passiert ist. Ich war verrückt, daß ich den

Weitere Kostenlose Bücher