Das dritte Leben
Sein Kind. Und doch nicht mehr sein Kind. Er legte seinen Arm um ihre Schultern. Nässe rann von ihren Schläfen über ihre schmalen Wangen.
»Komm zurück«, sagte er leise, »und sei es auch nur für ein paar Tage. Denk über alles nach. Überleg dir alles. Entscheide dich dann. Denk an all unsere gemeinsamen Jahre. Denk an die kleine Familie, die wir sind. Wir haben es schön gehabt, Sabine.«
Sie begann zu schluchzen.
»Denk an unsere Reisen. Weißt du noch, in Córdoba, wie du in der alten Moschee die Säulen gezählt hast, die weißen Jaspissäulen, und nie zu einem Ende kamst? Weißt du noch, wie du in der Mancha auf dem Esel zu den Windmühlen geritten bist und Don Quichotte gespielt hast? Weißt du noch, wie wir auf Capri in die Blaue Grotte ruderten, und wie du deine Hand ins Wasser gesteckt hast und ganz verwundert warst, daß sie sich nicht blau färbte? Weißt du noch, wie wir –«
»Hör auf, bitte«, flüsterte Sabine. Müde lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter.
»Es ist gut. Bring mich nach Hause.«
Sabine starrte in die Dunkelheit. Dezembernacht. Im Haus rührte sich nichts. Weder aus dem Zimmer Hildes noch aus dem Zimmer Richards war irgend etwas zu hören.
Sabine lag regungslos im Bett. Nur noch wenige Tage bis Weihnachten, dachte sie.
Bitter stieg es in ihr auf. Weihnachten. Das Fest der Kinder.
Aber ich bin kein Kind mehr. Ich bin niemandes Kind.
Renate Berglund.
Sie dachte den Namen, Buchstaben für Buchstaben. Dann sprach sie ihn leise aus, flüsterte: »Renate Berglund.«
Der Name einer Fremden.
Ich bin mir selbst fremd. Von einem Tag zum anderen.
Wenn sie doch nur geschwiegen hätte. Wenn sie doch nur nie etwas gesagt hätte. Ich hasse sie. Ich hasse diese Hilde Gertner, die vorgibt, meine Mutter zu sein, und es nie war. Mutter … Und meine wirkliche Mutter? Die Frau, die sich nie um mich gekümmert hat? War Hilde nicht in all den Jahren meine Mutter? Hat sie nicht doch recht?
Sabine biß die Zähne aufeinander, daß es knirschte.
Mutter. – Weihnachten. – Die Kerzen am Baum.
Sie wußte noch: das erste Mal. Das erste Mal, an das sie sich erinnern konnte. Ein riesiger Baum, so war es ihr erschienen, ein Baum aus einem Märchen, geschmückt mit bunten Glaskugeln, blauen, roten, gelben und weißen Kerzen, mit silbern funkelndem Lametta, mit weißem, wie hingehauchtem Engelshaar. Und die Spitze, eine glitzernde Spitze wie ein verchromter Eiszapfen.
»Mutti! Vati!« Und dann Staunen, Schweigen, leuchtende Augen. Und Richard hatte sie aufgenommen und zum Baum getragen, und sie hatte in das Licht der Kerzen gestarrt.
Sie sah es noch, sah sich selbst: die Kerzen, großer, gelber Schein, der direkt ins Herz ging.
»Das Christkind war da«, sagte ihr Vater.
»Das Christkind?«
»Es hat dir viele schöne Sachen gebracht.«
Sie schlang ihre kleinen Arme um dem Hals ihres Vaters. »Vati … das Christkind …«
Sie hatte ein bißchen Angst.
Und Freude, Freude, die das kleine Herz sprengen wollte.
Der Baum, das Licht, die vielen Lichter, der Glanz, und plötzlich das Sprühen einer Wunderkerze.
Sie erschrak. Klammerte sich an den Vater.
Hilde lachte.
»Schau, Sabine«, rief sie, »eine Wunderkerze.«
»Wunder …«, flüsterte Sabine.
Richard trug sie zu dem Tisch neben dem Baum. Der Teller – Äpfel, Nüsse, Schokolade, Lebkuchen darauf.
Leckereien. Sie haschte nach der nächstbesten Praline, steckte sie in den Mund. »Hm«, machte sie.
Und dann sah sie es: das Dreirad in der Ecke zwischen Tisch und Wohnzimmerbüfett.
»Vati!« Sie strampelte, wollte herunter. Er stellte sie auf den Boden. Sie lief zu dem Dreirad, blieb gebannt davor stehen.
»Morgen«, sagte Richard, »morgen darfst du damit fahren.«
»Nein, Vati, heute.«
»Aber es ist doch schon viel zu spät«, sagte er ohne große Überzeugungskraft.
»Heute, Vati!«
Er nahm das Dreirad hoch, mit einer einzigen Bewegung seiner kräftigen Hand, und trug es die Treppe hinunter in den Hinterhof des Hauses, in dem sie damals wohnten.
Feiner Schnee lag. Hilde steckte Sabine in das dicke Lammfellmäntelchen, lief mit ihr die Treppe hinunter.
Und unten, auf dem Hinterhof, während aus den Fenstern der anderen Wohnungen Weihnachtsmusik und Glockengedröhn aus den Radios erklangen, drehte Sabine ihre Kreise auf ihrem neuen, heißbegehrten Dreirad.
Richard stand in der Tür, dieses Lachen auf seinem Gesicht, dieses Lachen.
Sabine warf sich im Bett herum. Sie preßte die Fäuste in die Augenhöhlen,
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