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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Cordes
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daß es schmerzte.
    Mein Vater. Ich habe keinen Vater mehr. Da ist nur noch der Mann, der Richard heißt.
    Ich war immer so stolz auf meinen Vater. Es gab keinen anderen Mann. Nie einen anderen.
    Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und noch unberührt. Weil ich meinem Vater keine Schande machen wollte. Und jetzt ist er nicht mehr mein Vater.
    Hilde, wie ich sie hasse. Sie hat alles zerstört. Ich werde – ich will mich rächen.
    Ich liebte meinen Vater. Ich liebe Richard heute noch. Aber er ist nicht mehr mein Vater. Er ist ein Fremder.
    Ihr Herz begann wie rasend zu schlagen. Das wird meine Rache sein. Ich will Richard für mich haben, ganz für mich. Er wird mich nicht verlassen. Niemals.
    Aber ich muß einen Beweis haben. Den Beweis, daß ich nicht seine Tochter bin.
    Die Papiere. Die Dokumente, von denen sie sprachen. Die Geburtsurkunde der Renate Berglund. Meine Geburtsurkunde.
    Ihre Kehle war trocken, ihre Mundhöhle heiß.
    Und die Briefe von Alexa. Der Name brannte ätzend in ihrem Hirn. Alexa. Meine – Mutter.
    Sabine warf die Bettdecke zurück, zog ihren Bademantel über, schlüpfte in die weichen Fellpantoffeln. Öffnete die Tür.
    Die Dunkelheit des Hauses hauchte sie an. Kein Laut war zu hören.
    Sie huschte über den Gang zu Richards Arbeitszimmer. Zwielicht und Schatten. Hinten der Schreibtisch.
    In der hellgrauen Dunkelheit tastete sich Sabine durch den Raum. Vorsichtig zog sie die Vorhänge zu. Knipste dann die Tischlampe auf dem Schreibtisch an.
    Stand still, lauschte. Kein Ton.
    Auf dem Schreibtisch Richards pedantische Ordnung. Bleistifte wie Grenadiere steif nebeneinander, gerade ausgerichtet. Buntstifte in einer venezianischen Glasvase. Zwei Ordner mit Unterlagen von der Baustelle ›Südring‹. Die beiden Bilder im Silberrahmen: sie selbst und Hilde. Sonst nichts.
    Vorsichtig zog sie die oberste Schublade auf.
    Richard hatte die Dokumente nicht versteckt. Sie lagen obenauf, Renates Geburtsurkunde und die beiden Briefe Alexas. Die Papiere!
    Schublade zu. Licht aus. Vorhänge wieder auf. Sie huschte hinaus.
    In ihrem Zimmer nahm Sabine die Leica, die Richard ihr vor einem Jahr geschenkt hatte, schraubte die Vorsatzlinse für Nahaufnahmen auf.
    Blende acht. Fünfzigstel Sekunde.
    Sie legte die Dokumente nebeneinander auf ihren schmalen Schreibtisch unter dem Fenster.
    Blitz. Weiter. Blitz. Weiter. Blitz. Die Rückseite des einen Briefes. Noch einmal.
    Sie spulte den Film zurück, nahm ihn aus der Kamera, steckte ihn in eine Blechtube, legte die Kamera in ihren Schrank, brachte die Dokumente in Richards Zimmer zurück.
    Dann lag sie wieder im Bett. Ihr Herz hämmerte, als wollte es zerspringen.
    Skandal. Es würde einen Skandal geben. Hilde saß allein noch am Frühstückstisch, zerbröckelte zerfahren eine Semmel.
    Sabine war in ihrer Buchhandlung; Richard weggefahren zu der neuen Großbaustelle am Südring.
    Der Föhn war vorüber. Kälte rieselte von den Alpen ins Land. Der erste richtige Schnee fiel; flockiger, weißer, unberührter Schnee. Unberührt von allem, was geschah.
    Sabine war nicht mehr ansprechbar. War unberechenbar. Hatte mit ihr kein Wort gewechselt. Allein auf ihrem Zimmer gefrühstückt – eine Tasse Kaffee, nichts gegessen.
    Mein Kind, dachte Hilde dumpf, mein armes Kind.
    Ich muß etwas tun. Ich muß mir Rat holen. Vor allem muß ich einen Skandal vermeiden. Ich muß mit Wiegand sprechen. Er würde einen Ausweg wissen.
    Vielleicht konnte sie wirklich alles als eine Ausgeburt ihrer Phantasie darstellen? Vielleicht doch so tun, als leide sie noch an den Folgen des Unfalls?
    Wiegand würde bestimmt ein Attest ausschreiben.
    Und warnen mußte sie ihn. Warnen vor Sabine.
    Hilde stand auf, lief zum Telefon. »Ein Taxi bitte!«
    Zehn Minuten später war sie auf der Fahrt ins Sankt-Peter-Hospital.
    Die Morgenvisite war bedrückend. Drei Abgänge in der Nacht. Ein Infarkt, ein Karzinom im Endstadium, eine Lungenembolie.
    Und nun die Thrombose.
    »Wer hat dem Patienten die letzte Spritze gegeben?« fragte Professor Wiegand, und seine Stimme war kalt und scharf.
    »Doktor Lettweg«, beeilte sich der Internist, Dr. Bering, zu berichten.
    »Lettweg! Schon wieder Lettweg! Ich hatte doch angeordnet …« Wiegand machte eine unwillige Bewegung mit der Hand. »Na schön. Also, es bleibt uns ja nichts anderes übrig als die Amputation.«
    Drei Köpfe nickten. Wiegand sah sie der Reihe nach an. Nichtskönner, dachte er. Quacksalber. Und mit denen muß ich arbeiten.
    Der einzige anständige

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