Das dritte Leben
Kilometer bis München.
Nacht. Dezembernacht. Frostiger Mond über den brachen Feldern. Schwarz die Wälder. Weiße Pfeile die Scheinwerfer. Böse rote Augen die Rücklichter. Sie glotzten ihn an. Vorsicht, du lebst nicht lang, du lebst nicht lang. Alles egal.
Sabine! Was haben sie mit meinem Kind gemacht?
Richard fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Es war naß vom Schweiß.
Er tastete nach dem Handschuhkasten, griff nach der Schachtel, zog eine Zigarette heraus. Der Rauch versengte seine Kehle. Gott, nimmt das denn kein Ende? Noch 180 Kilometer. Er knirschte mit den Zähnen.
Renate … Nicht mein Kind!
Ich kann sie doch nicht einfach … Was kann ich nicht?
Sie weiß nichts. Weiß genausowenig, wie ich bisher wußte.
Plötzlich wurde ihm klar, wieviel schwerer es noch für das Kind sein mußte, wenn es je die Wahrheit erfuhr. Mein Gott, daran hab' ich gar nicht gedacht.
Er hielt auf dem nächsten Parkplatz. Drei, vier Laster standen da, Nebel wallte vom Forst her.
Zwei holländische Fernfahrer wechselten fluchend einen Reifen. Ein junger Belgier, Zigarette schief im Mundwinkel, schlug sich Arme und Brust warm. Aus einem Radio kam plärrende Musik; Nachtexpreß.
Richard trank den Rest Bourbon aus der Reiseflasche. Die Kälte drückte mit kalten Daumen in seine Augenhöhlen.
Renate – Sabine.
An sie muß ich denken. Sie gilt es zu schützen. Aber sie ist nicht mein Kind. Weder meins noch Hildes.
Und all die Jahre? Die langen Jahre?
Weißt du noch, wie sie zum ersten Mal Vati zu dir sagte? Zwei Jahre und sagte Vati. Nie Papa oder Baba oder Papi – nein, sie sagte Vati, mit einem weichen W, es klang fast wie ›Whati‹.
Das war im Königsforst, am zweiten Tag. Hilde kniete vor ihr und sagte: »Sag doch mal Papa.« Und Oma Günders sagte: »Quatsch, Vati soll sie sagen, wie ich es ihr beigebracht habe!« Und Sabine, mit großen, strahlenden Augen, sagte laut und deutlich: »Whati!«
Richard ballte die Faust um die leere Reiseflasche, daß es schmerzte.
»Feuer?« fragte eine Stimme aus dem Dunkel.
Ein Gammler, Haar genicktief, hielt ihm einen Zigarettenstummel unter die Nase.
In der gelben Flamme des Feuerzeugs sah er das Gesicht des Burschen. Keine achtzehn. Schmal, Kerben um den blassen Mund. Schatten unter den unsteten Augen. Unrasiert. Nicht gewaschen; man konnte es riechen.
»Können Sie mich 'n Stück mitnehmen?« fragte er.
Richard steckte das Feuerzeug ein. »Wohin?«
»Irgendwohin.«
Richard betrachtete ihn. Kaum achtzehn. Mager. Wäschebeutel unterm Arm, Gitarre über der Schulter. – Konnte er was dafür?
»Kommen Sie«, sagte Richard.
Wortlos folgte der Junge.
Schweigend fuhren sie die ersten Kilometer. Dann fragte Richard: »Und warum?«
»Warum ich auf Achse bin?«
»Ja.«
»Nur so.«
»Keine Antwort.«
»Soll ich wieder aussteigen?«
»Komm, Junge, spiel nicht den großen Macker. Ich will dir nichts, will nichts von dir. Mich interessiert es eben.«
»Kann ich mir denken.«
»Na also, dann gib Antwort.«
Schweigen.
Dann plötzlich: »Weil ich 'ne Sauwut habe. Einfach deshalb.«
Richard wartete.
Dann sagte der Junge, fast gleichgültig: »Mein Erzeuger hat meine Alte sitzenlassen, als ich zwei Jahre alt war. Einfach weg. Nie mehr was von gehört. Und meine Alte – nun, die kann es nicht lassen.«
Richard bot dem Jungen eine Zigarette an, rauchte selbst.
»Ja, ich mein' mit den Kerlen. Immer neue Kerle. Und da bin ich eben ab.«
»Jetzt, mitten im Winter?«
»Ist doch scheißegal. Ich will ja nicht hierbleiben. Mach' rüber nach Italien. Da um Taormina rum. Zu fressen krieg' ich immer.«
»Und – arbeiten?«
Der Junge lachte. »Für wen denn? Damit meine lieben Eltern stolz auf mich sind?«
Und dann: »Hier steig' ich aus.«
Ausfahrt Augsburg.
»Kannst noch mit bis München«, sagte Richard.
Der Junge schüttelte den Kopf.
Richard hielt auf dem Seitenstreifen.
Der Junge stieg aus, ohne ein Wort, schlug die Tür zu.
Richard fuhr an. Für wen denn? fuhr es ihm durch den Kopf.
Das würde auch Sabine fragen.
Für wen denn? Warum?
Hilde stand in der Tür seines Arbeitszimmers. Er stand am Fenster, blickte hinunter in den regennassen Garten.
»Bitte, komm rein«, sagte er.
Sie schloß die Tür hinter sich.
Er ging zum Schreibtisch, nahm die Briefe Alexas und die Geburtsurkunde Sabines-Renates und hielt sie Hilde hin.
»Das habe ich in deiner Kommode in Köln gefunden.«
Hilde griff nach den Dokumenten. Alle Farbe wich aus ihrem
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