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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Cordes
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an.
    Der zuckte zusammen, als hätte Wiegand ihn geschlagen.
    Weißes Fleisch. Jetzt rot. Adern, dick, sprudelnd.
    »Klemme!«
    Abgeklemmte Gefäße. Haut, die sich verfärbt.
    »Puls schwächer«, sagte der Narkosearzt.
    »Adrenalin!«
    Thrombose im Unterschenkel. Keine andere Möglichkeit mehr. Falsch behandelt. Seine Schuld? Oder die von dem jungen Spund, diesem Lettweg?
    Fahrlässigkeit. Wer hatte nicht genug aufgepaßt?
    Schlagzeile in der Presse: »Professor Wiegand entlarvt … Schuldig …«
    Die Knochensäge biß in den Schenkel.
    Ein Leben lang nur noch mit einem Bein.
    Mein Gott, was war schon sein Problem dagegen?
    Vielleicht würde ich ein Bein geben, wenn ich damit meine Vergangenheit auslöschen könnte.
    Er biß die Zähne zusammen. Spürte den Blick, den ruhigen Blick von Dr. Matusi auf seinen Händen.
    Du bist Professor Matthias Wiegand. Du bist eine Kapazität. Dir ist noch nie eine Operation mißglückt.
    Eine Amputation? Ein Nichts, ein Stück für einen Schüler, einen Lehrling.
    Und doch. Ein Mensch. Ein Mensch, der verstümmelt wird.
    Heiß stieg es ihm in die Kehle. Das arme Schwein, dachte er. Wir sind alle arme Schweine.
    Natürlich mußte er es Irene sagen. Es gab keinen Ausweg mehr. Wenn diese Sabine wußte, daß er ihr Vater war, würde sie auch Gebrauch davon machen.
    Er saß in seinem Ordinationszimmer, unfähig, klar zu denken.
    Ich muß mit Irene sprechen. – Ich kann nicht mit Irene sprechen.
    Ich bin ein Feigling gewesen. – Das war damals. – Er sprang auf, ging rastlos im Zimmer auf und ab. – Und heute? Bin ich heute kein Feigling mehr?
    Er sprang auf, ging rastlos im Zimmer auf und ab. –
    Es ist dreiundzwanzig Jahre her. Eine Jugendsünde.
    Nimm es nicht so leicht! Aber, es ist doch eine Jugendsünde! Gut, ich habe Alexa sitzenlassen. Gut, ich habe mich nicht um das Kind gekümmert.
    Aber die andere – Hilde –, die wollte doch das Kind! Gab es einfach nicht wieder her!
    Ja. Aber ich habe gewollt, daß sie es behielt.
    Gischt über der Bordwand. Menschen, die sich erbrechen. Nacht. Minenboote voraus. Heulender Warnton. U-Boot-Gefahr.
    Vor ihnen nichts als Hoffnungslosigkeit, grau und schwarz wie die See. Eisig wie der Wind aus dem Norden.
    Wiegand duckte den Kopf in den Kragen seines Mantels. Sie standen im Windschatten der Aufbauten. Über ihnen brüllte der Erste Offizier ins Megaphon. Unverständliche Worte. Es bunkerte von einem der Schnellboote herüber. Unverständliche Zeichen.
    »Mein Kind«, lächelte Hilde Gertner. Sie drückte Alexas Baby an sich.
    Dein Kind, dachte Wiegand. Er drehte sich Alexa zu.
    »Sie behält es«, murmelte er.
    Alexa erwiderte nichts. Sie stand und starrte nur in die Nacht hinaus.
    Wiegand trat zu seinem weißen Schreibtisch, schluckte noch eine Beruhigungstablette.
    Verdammt noch mal. Dreiundzwanzig Jahre ist das her. Und seitdem bin ich ein Ehrenmann.
    Geworden? Gewesen? Wird man ein Ehrenmann? Wie wird man es?
    Er schlug mit der geballten Faust gegen die Wand, daß ihm der Schmerz bis in die Schulter hochfuhr.
    Er riß sich den weißen Kittel herunter, lief nach draußen, stürmte den Gang entlang.
    Unten, im Wagen, wußte er: Die nächste Stunde würde die Entscheidung über sein drittes Leben bringen.
    Frack war an diesem Abend Vorschrift. Premiere in der Staatsoper. Frack und langes Abendkleid.
    Der Kragenknopf sprang unter seiner Hand davon. Wiegand bückte sich fluchend. Fand ihn nicht. Tastete unter die Herrenkommode. Endlich.
    Er blickte auf die Uhr. Wenn er es jetzt Irene sagte? Noch eine Stunde Zeit.
    Er knöpfte den Kragen zu, schloß die Hemdknöpfe, die weißen Perlen, die Irene ihm zum zweiten Hochzeitstag geschenkt hatte. Stand dann im Frack vor dem Spiegel.
    Untadelig, vom Scheitel bis zur Sohle. Silberne Fäden im schwarzen Haar. Ein Herr mit grauen Schläfen. Braungebrannt das Gesicht. Kaum Falten. Nur um die Augen herum.
    Er konnte es sich leisten, so auszusehen. Viel Sport, viel Jagd, viel Freizeit. Trotz aufreibender Arbeit in der Klinik.
    Viel Zeit. Viel Geld. Viel Ruhm.
    Alles vergänglich. Alles so schnell dahin.
    Aber ich bin kein feiger Hund, der sich drückt, wenn die Stunde kommt.
    Entschlossen schritt er zur Tür. Ging über den langen Flur. Die Kristallkerzen brannten hinter ihren Kupferschirmen. Aus dem großen Kinderzimmer drang Lärm.
    Meine Buben! Meine drei Buben.
    Er blieb stehen, die Hand auf dem Geländer der Brüstung. Kann ich es überstehen?
    Wenn Irene sich scheiden läßt, bekommt

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