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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Cordes
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hochgestecktes Haar.
    »Du machst mir meine Frisur kaputt«, lachte sie leise.
    »Und wenn schon«, murmelte er.
    Ihre Arme umschlangen seinen Rücken, ihre Hände tasteten zu seinem Nacken hoch.
    »Wir müssen gehen, sonst kommen wir zu spät in die Oper«, sagte sie.
    Er küßte sie, wild und verlangend.
    Der mit gelber Seide bespannte Diwan an der Längswand des Zimmers.
    »Matthias!«
    Er streifte die dünnen Träger des Kleides von ihren Schultern.
    »Nicht!«
    Die glatte Seide ihrer Haut auf der glatten Seide des Diwans.
    »Matthias – wir können doch nicht … Wir können doch … wir können …«
    Er schloß die Augen. Nur wissen, daß sie meine Frau ist.
    »Matthias.«
    »Ich liebe dich«, stieß er hervor, »ich liebe dich!«
    Nie mehr hatte er das gesagt in den letzten Jahren. Nie mehr war es über seine Lippen gekommen – die Verlegenheit des verheirateten Mannes seiner Frau gegenüber, die Verlegenheit der langen Intimität. Aber jetzt kam es wie ein Stöhnen aus seiner Brust: »Ich liebe dich!«
    Die Tannen bogen sich unter der Last des Schnees. Krähen kreisten über der flachen Landschaft, in der sich die schwarzen Forste bis zum Horizont dehnten.
    Dann kamen Weiden, schier endlos. Weiße Leinendecke des Schnees, braun gesprenkelt mit den niedrigen Klötzen der Bauernhöfe.
    Die Räder des Zugs ratterten: nur weg, nur weg, nur weg. Das war es, was Sabine dachte – nur weg!
    Heulend raste der Zug durch den wintergrauen Tag. Sie öffnete das Fenster einen Spaltbreit. Schneidend fuhr der Wind ins Abteil.
    Die alte Frau ihr gegenüber hüstelte. Sabine schloß das Fenster wieder. Der Kerl an der Tür starrte auf ihre Beine. Sie drehte ihm den Rücken zu.
    Sie öffnete ihre Handtasche, nahm die Fotokopien von Alexas Briefen heraus.
    Sie las sie noch einmal. Wort für Wort.
    Meine Mutter!
    Sie blickte hinaus ins triste Land. Tränen traten ihr in die Augen. Nichts tat ihr leid. Vor ihr lag der Weg, den sie selbst gewählt hatte.
    Sie mußte Alexa finden. Sie mußte die Frau finden, die ihr Kind einfach weggegeben hatte, einfach einer anderen.
    Sabine hatte den Abschiedsbrief auf Richards Schreibtisch hinterlegt. Er mußte ihn gleich gefunden haben, gleich am Morgen.
    Aber da war sie schon im Zug, war schon weit weg. Richtung Oldenburg.
    In Oldenburg steigen Sie um. In Oldenburg nehmen Sie den Personenzug nach Friesoythe.
    Friesoythe. Nie gehört im Leben.
    Friesland. Dickschädelige Bauern.
    Und dort hatte Alexa gelebt nach dem Krieg. Nur dort konnte sie die Spur aufnehmen, die zu dieser Frau führte, die ihre Mutter war und sie einer anderen überlassen hatte.
    Merkwürdig. Das alles tat nicht weh. Was weh tat, war die Trennung von ihrem Vater. Sie dachte immer noch an ihn als ihren Vater.
    Und das Weihnachtsfest hatte den Ausschlag gegeben für ihre Flucht. Diese schrecklichen Tage. Sie allein auf ihrem Zimmer.
    Richard hatte gesagt: »Du kommst nach unten, zu uns. Wir gehören zusammen: du, Hilde und ich.«
    Und sie: »Nein, wir gehören nicht mehr zusammen. Nur du und ich, aber Hilde nicht.«
    »Nun gut«, hatte Richard gesagt. »Nun gut.« Und die Tür geschlossen.
    Das war das letzte, was sie von ihm sah. In der Nacht packte sie ihren Koffer, nahm die Fotokopien, verließ das Haus. Lief durch die wirbelnde, weiß-schwarze Winternacht, fand ein Taxi, ließ sich zum Bahnhof fahren.
    Einmal Zweiter nach Friesoythe. Selbst der Mann am Fahrkartenschalter mußte nachschlagen, wo das überhaupt lag.
    Unterwegs. Wohin, wohin?
    Ich will Gewißheit haben, wer die Menschen sind, die mich – gezeugt haben.
    Alexa und dieser Matthias. Matthias – wer war er, wie hieß er weiter?
    Das hatte sie an jenem schicksalhaften Tag nicht verstanden, als Hilde Richard alles bekannt hatte. Und keiner der beiden würde ihre Frage beantwortet haben.
    Die Räder ratterten über winterharte Schienen, heulten in den Gleisen, stampften im Rhythmus: wohin, wohin, wohin?
    Noch eine Stunde bis Oldenburg.
    Sabine blickte auf das verschneite Land hinaus. Ein Bussard strich mit langem Flügelschlag gegen den Wind hoch über die Tannen hinweg, fiel dann in ein Gehölz, pfeilgeschwind.
    Sie sah ihn und sah ihn nicht. Dachte nur immer wieder: Warum haben sie das getan, damals? Der Mann und die Frau, die meine Eltern sind?
    Sie mußte eingenickt sein, denn der Kerl an der Tür sagte plötzlich: »Oldenburg. Hier wollten Sie doch umsteigen, nicht?«
    Sie fuhr hoch. Er sprang auf, nahm ihren Koffer aus dem Netz.
    Widerwillig

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