Das dritte Leben
bedankte sie sich. Er half ihr in den Mantel. Grinste. Seine Hand berührte ihre Hand.
Dann stand sie auf dem Bahnsteig. Papierfetzen im Wind. Schneematsch zwischen den Gleisen. Aus dem Lautsprecher klang es verzerrt: »Personenzug nach Friesoythe …« Das übrige verstand sie schon nicht mehr.
Sie lief zu dem anderen Bahnsteig. »Der Zug nach Friesoythe?«
Der in der blauen Uniform nickte. »Machen Sie mal, Frollein, geht gleich ab.«
Dann saß sie wieder im Zug. Diesmal allein im Abteil. Es war sehr heiß. Sie öffnete das Fenster, ließ es offen.
Nicht denken. Jetzt denk doch um Gottes willen an nichts.
Warum haben sie es getan? Warum haben mich meine richtigen Eltern verraten?
Und die andere – die wirkliche Sabine? Ob sie noch lebt? Vielleicht doch aus dem eisigen Wasser der Ostsee gefischt wurde, wie Richard meinte?
Heiß stieg es in ihr auf. Panik. Wenn Sabine noch lebte, dann war alles aus.
Jetzt konnte sie vielleicht noch zu Hilde und Richard zurückgehen. Aber wenn Sabine noch lebte?
Ich bin Sabine!
Du heißt Renate Berglund. Du bist ein uneheliches Kind. Nein, ein außereheliches.
Ob jener Hauptmann Berglund etwas weiß? Jener strahlende Held, wie ihn Alexa in ihrem Brief schilderte? Strahlender Held, der von seiner Frau betrogen wurde?
Renate zündete sich eine Zigarette an. Rauchte nervös. Die zehnte schon an diesem Tag.
Der Zug hielt. Friesoythe stand draußen auf dem Schild.
Renate stieg aus.
7
»Sie stürzt uns alle ins Unglück«, sagte Hilde.
Richard ging zu ihr. Sie tat ihm leid.
»Ich muß jetzt ins Büro.« Er streichelte ihre Schulter.
Flehend blickte Hilde ihn an. Ihre Hände tasteten über das weiße Leinen des Frühstückstischs. »Willst du – ihr nicht nachfahren?«
Richard schüttelte den Kopf. »Das wäre sinnlos. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob sie wirklich nach Friesoythe gefahren ist. Vielleicht hat sie auch schon erfahren, wo Alexa heute lebt.«
»Ich weiß es ja noch nicht einmal. Ich weiß ja nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebt!«
Richard nahm seine schwarze Aktentasche auf. Er blickte zum Fenster. Draußen war der Schnee in Regen übergegangen. Die Bäume standen im Trauerflor eines tristen Nebels.
Unerträgliche Tage zwischen Weihnachten und Neujahr. Diesmal noch unerträglicher, weil Sabine nicht mehr da war. Er würde sie immer so nennen. Für ihn blieb sie seine Tochter.
Der Brief ans Rote Kreuz lag in seiner Aktentasche. Davon hatte er Hilde nichts gesagt.
»Ich muß jetzt gehen.« Er küßte ihre Wange.
All der Zorn der ersten Tage nach der schrecklichen Eröffnung war verraucht. Da war nur noch eine große Trauer – und die Entschlossenheit, entweder Renate-Sabine zurückzuholen in seine Familie oder die wirkliche Sabine, seine leibliche Tochter, zu finden.
Hilde sah ihm stumm nach, wie er zur Tür ging.
Richard blickte noch einmal zum Haus zurück, als er in den Wagen stieg. Es war so lange sein Heim gewesen. Das Heim einer glücklichen Familie.
Und jetzt? Er setzte sich hinters Steuer, fuhr los. Am nächsten Briefkasten hielt er, warf den Brief ein. Adressiert an die Suchstelle des Deutschen Roten Kreuzes.
Gesucht wird das Kind Sabine Gertner, geboren am 21. März 1944 in Mewe.
Weshalb erst jetzt gesucht? Er ließ die Klappe des Kastens zufallen.
Warum erst jetzt? Darauf hätte Hilde ihm eine Antwort geben müssen.
Hilde wußte die Antwort: weil sie insgeheim fürchtete, daß Sabine tatsächlich noch lebte. Dazu das Schuldgefühl, das schlechte Gewissen, weil sie damals Renate an sich genommen und wie ihr eigenes Kind behandelt hatte.
In den ersten Wochen der Flucht, noch verwirrt von dem Schock, war ihr gar nicht die Idee gekommen, daß Renate nicht ihr eigenes, ihr leibliches Kind sein könnte. Und dann, als sie zur Besinnung kam, liebte sie Renate nur um so mehr – das verstoßene Kind des egoistischen, unehrlichen Liebespaars.
Und sie dachte: Sabine ist tot. Das dachte sie auch noch, als Richard aus der Gefangenschaft kam.
»Unser Kind – wo ist Sabine?« rief er, als er in der Tür stand, die Arme ausgebreitet, in seinem alten Militärmantel, den Kopf kahlgeschoren, dreckig von Kopf bis Fuß, unrasiert.
Sie lag in seinen Armen, schluchzte. Er streichelte ihren Rücken. Sie spürte sein stacheliges Borstengesicht an ihrer Wange. Seine Tränen vermischten sich mit den ihren.
Sie küßten sich. Kein Kuß der Leidenschaft. Bruder-und-Schwester-Kuß der Wiederkehr. Zu viel Zeit war verstrichen.
Das Kind saß
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