Das dritte Ohr
Gedankengänge zu ergründen, die meine Arbeit bestimmten – von Leuten, die sich an mich wie an einen erfolgreichen Roulettespieler hängten, der eine Glückssträhne hat. Ich hatte sie satt und wollte mein Studienjahr anonym verbringen, aber das scheint unmöglich zu sein.“
„Wissen Sie, dem können Sie sich nicht so ohne weiteres entziehen. Ihr Name ist für andere Wissenschaftler wie eine Fackel. Sie können sich nicht vor ihnen verstecken. Bauer kann es gar nicht abwarten zu erfahren, woran Sie arbeiten. Heinemann folgte Ihren Schritten wie ein Maulesel einem Pferd auf demselben Pfad. Das ist nun einmal der Preis der Berühmtheit.“
„Wissenschaftler auf der ganzen Welt arbeiten an den gleichen Problemen – Sie haben selbst heute abend davon gesprochen.“
„Habe ich das?“ sagte sie und wühlte in ihrem Gedächtnis. „Die Auslösung von Stimmungen. Was bewirkt Ärger, Eifersucht, Angst und Gewalt in Tieren und Menschen? Wenn wir die chemische Ursache davon entdecken können, werden wir imstande sein, unsere Stimmungen zu kontrollieren – sie im Gleichgewicht zu halten und übertriebene Gefühle zu vermeiden, also nur die zuzulassen, die unser geistiges Gleichgewicht nicht stören. Aber nicht durch die Anwendung von Beruhigungs- oder Anregungsmitteln. Wir könnten dann wohl das chemische Gleichgewicht in geistesgestörten Leuten wiederherstellen und sie so heilen. Das ist alles, was ich tue, mit RAB-Schlaf experimentieren. Nichts Besonderes, wie Bauer feststellen wird.“
Das war die Erklärung, die ich mir zurechtgelegt hatte. Niemand – bestimmt keiner jener Techniker an der Klinik oder auch der, der die Abhöranlage hier installiert hatte, würde so meinem eigentlichen Ziel auf die Spur kommen.
Sie schlüpfte aus ihrem Mantel, zog die Schultern zurück, wobei sie sich auf steif ausgestreckte Arme stützte, und hob ihr blasses Gesicht.
„Joseph glaubt, daß Sie hinter etwas anderem her sind“, sagte sie. „Auch Bauer.“
„So?“ antwortete ich, und mein Herz schlug, setzte einen Augenblick aus.
„Sie wissen es nicht, vermuten aber etwas Außergewöhnliches.“
„Es tut mir leid, sie enttäuschen zu müssen“, sagte ich. „Ich tue das, was Heinemann in seinen Briefen an mich erwähnte. Ich erforsche die biochemischen Hintergründe der Körperfunktionen, und gelange nur immer wieder zu dem Schluß, daß ein gelöstes Problem tausend ungelöste schafft.“
„Wenn dem so ist“, sagte sie und schenkte sich ihr Glas nochmals voll, „so verstärkt die Forschung den Zweifel.“
„Ich glaube, daß unser Gehirn die Geheimnisse der Natur nur begrenzt erfassen kann. Durch die Beschaffenheit unseres Nervensystems sind wir in unserem Denken eingeschränkt. Wir können nur linear denken. Wenn wir ein anderes Nervensystem hätten, zum Beispiel ein netzartiges, könnten wir gleichzeitig zu verschiedenen Lösungen von Problemen gelangen, zu Lösungen, die womöglich gleichwertig sind. Die Gesetze, die wir jetzt zu erkennen vermögen, gelten vielleicht nur auf diesem Planeten und können vielleicht nicht auf anderen Planeten übertragen werden. Der Mensch handelt so, als wäre er Gott, aber seine Erkenntnisse sind eng begrenzt. Wir mögen zwar manchmal recht haben – aber es gibt keine narrensichere Grundlage, die uns berechtigen würde, von absoluter Gültigkeit unserer Erkenntnis zu sprechen, keinen festen Punkt, von dem aus wir unsere Theorien weiter ausbauen könnten. Sie sind lediglich Mutmaßungen. Sogar wenn sie sich im Experiment als ‚richtig’ erweisen, heißt das nicht, daß sie dies auch in der komplexen Welt der Phänomene außerhalb des Laboratoriums sind. Wo immer wir Inkonsequenzen finden, so geringfügig sie auch sein mögen, zweifeln wir an unseren gängigen Theorien.“
„Dann wäre es also möglich, daß wir nie zu einer echten Lösung gelangen?“
Ich hatte absichtlich eine leichte Verstimmung zwischen uns geschaffen, als ich die Unfehlbarkeit der Wissenschaft in Frage stellte. Das Ziel meiner Forschung war zu diffizil, um definiert werden zu können. Sollte ich Erfolg haben, so würde es zweifellos das Denken des Menschen, sein Verhalten, sowie die Beziehung zwischen Menschen und Völkern revolutionieren. Es könnte die Welt umwandeln, sie vollkommen machen oder ins Verderben stürzen. Dennoch war ich nicht sicher, ob ich diese Büchse der Pandora öffnen sollte; ich war mir natürlich bewußt, daß der Keim, sobald er einmal gepflanzt war, am Ausreifen nicht mehr
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