Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
hatte ich bloß getan, um das zu verdienen? Wie sollte ich nur dagegen ankommen?
Ich konzentrierte mich wieder auf Alistair, der jetzt auf der Bank neben Beckett saß. Er hatte sein Jackett ausgezogen und sich den Ärmel fast bis zur Schulter hochgekrempelt. Er sah nervös aus – seine Miene blieb zwar gefasst, aber der Blick wurde unstet. Beckett beugte sich über ihn und drückte ein spielkartengroßes Papier gegen den Bizeps des jungen Rekruten, strich es glatt und hielt es dann fest. Alistair biss die Zähne zusammen, als Rauchschwaden von seiner goldenen Haut aufstiegen. Langsam löste sich das Papier auf, und eine Zeichnung begann Formen anzunehmen. Um den Schmerz zu ertragen, presste Alistair die Lider aufeinander, als Beckett die Hand wegnahm und das Symbol allein weiterwuchs, sich in Alistairs Haut brannte und ein Design zeigte, das ich schon mal gesehen hatte: Es handelte sich um das Auge mit der pentagrammförmigen Pupille. Der junge Mann ballte die Hände zu Fäusten und schüttelte sie wieder aus, bis sich schließlich sein ganzer Körper entspannte und er tief durchatmete. Beckett legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter, Alistair sah zu ihm auf, nickte und erhob sich. Das Jackett in der Hand kehrte er zu seinem Platz im Ring zurück. Diejenigen, denen das Ritual noch bevorstand, starrten ihn in stiller Ehrfurcht an.
So ging es weiter, bis alle Rekruten diesen Prozess durchlaufen hatten. Der einzige Unterschied bestand darin, wie gut oder schlecht jeder Einzelne mit dem Schmerz umging (einige weinten, andere schrien qualvoll auf), und darin, wo sie die Markierung trugen – einige entschieden sich für ein Schulterblatt, andere für den Unterarm oder Knöchel. Als die Gruppe fertig war, trat Aurelia wieder ans Pult.
»Herzlichen Glückwunsch euch allen. Euch erwartet Großes.«
Der äußere Ring der älteren Syndikat-Mitglieder applaudierte, und die neuen Mitglieder sahen sowohl stolz als auch gequält aus, viele mussten nach dem Markierungsritual vor Schmerzen noch immer die Zähne zusammenbeißen. Aurelia hielt eine Hand hoch, um den Applaus zum Schweigen zu bringen. Ihr Gesichtsausdruck war jetzt noch stoischer als sonst.
»Dies ist ein bittersüßer Moment, denn so, wie wir heute viele neue Mitglieder in unserer Mitte willkommen heißen, müssen uns auch einige wieder verlassen. Das ist der natürliche Kreislauf in unserer Welt. Wenn neue Seelen in die Metamorphose eintreten, muss eine in die Hölle zurückkehren. Am Tag deiner Aufnahme wird auch deine Lebenserwartung hier bestimmt: Nachdem deine Tage hier gezählt sind, wirst du offiziell der Unterwelt übergeben. Das ist der Handel, dem du zugestimmt hast. Die Bedingungen sind bei jedem anders, keiner weiß, wie viel Zeit ihm hier bleibt, nur dass sie nicht unbegrenzt ist.« Sie verstummte kurz und sah auf ihre Hände hinunter, als ob sie darin nach einem Hinweis darauf suchen würde, wie sie nun fortfahren sollte.
Endlich erklärte sie mit sanfter Stimme: »Ich möchte es nicht versäumen, die Tragödie unserer lieben, fehlgeleiteten Calliope anzusprechen.« Ich konnte spüren, wie sich jeder im Raum zu ihr vorlehnte, um zu hören, was sie über das Schicksal dieser schönen jungen Frau zu sagen hatte. »Wie ihr alle wisst, hat sie uns mit großem Einsatz gedient und war eines der herausragendsten Mitglieder. Tatsächlich wurden viele wichtige Figuren in unseren Reihen von ihr angeworben.« Ihr Blick wanderte zu Beckett hinüber, der den Kopf hängen ließ. »Wie alle hier verstand Calliope, was von ihr erwartet wurde, und war mit den Gegebenheiten ihrer … Situation … bestens vertraut. Sie hat uns ihre Seele überschrieben, und im Gegenzug haben wir aus ihr eine große, berühmte und allseits verehrte Künstlerin gemacht. Aber als ihre Zeit abgelaufen war, wollte sie sich nicht willig in ihr Los fügen. Stattdessen lief sie davon. Sie hat sich dieser Verantwortung entzogen, ihr Wort gebrochen und damit eine Situation geschaffen, die uns alle in große Gefahr gebracht hat. Unser lieber Beckett«, sie sah nun zu ihm hinüber, und er erwiderte ihren Blick, »hat uns dabei geholfen, sie zurückzuholen, die Geschichte hat aber ein äußerst unglückliches und leider auch öffentliches Ende gefunden.«
Sie richtete sich wieder kerzengerade auf und nahm ihre Kraft zusammen. »So etwas darf natürlich nie wieder geschehen.« Jetzt nahm ihre Stimme einen neuen, scharfen Tonfall an. Es war, als sei jeder Buchstabe mit Dornen versehen, als
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