Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
schwiegen lange. Ich lag auf dem Rücken, starrte die bröckelnde Decke an und ging alles durch, worüber wir gesprochen hatten, ließ es sacken. Endlich sprach er wieder: »Kannst du mir tatsächlich verzeihen? Wirst du mich wohl je wieder so ansehen wie damals, bevor du von meinen schrecklichen Taten wusstest? Von all den Seelen, die ich in die Unterwelt geschickt habe?«
»Ein jeder von uns trägt Himmel und Hölle in sich – das habe ich mal gelesen.«
»Vielleicht. Aber bei dir liegen die Proportionen vermutlich bei 99 Prozent Himmel und einem Prozent Hölle. Und bei mir ist es wohl eher umgekehrt.« Er lächelte kopfschüttelnd. Und ich musste auch lächeln. Dann warf er einen Blick auf die Uhr, stand auf und klopfte sich den Staub ab. »Wow, ich fürchte, jetzt muss ich aber los.«
»Ich auch«, antwortete ich, obwohl es mir durchaus recht gewesen wäre, für immer hier unten zu bleiben, während langsam die Stunden verstrichen. Es hatte sich die ganze Zeit über so angefühlt, als würden wir da über irgendwelche Fremden sprechen und nicht über den Schrecken, dem ich jetzt gegenübertreten musste. Auch ich erhob mich und schüttelte sein zerknautschtes Sakko aus, das ich am liebsten als Erinnerung an diese Nacht behalten hätte. Stattdessen reichte ich es ihm aber dankend.
»Ist es okay, wenn ich dich da allein hochklettern lasse? Ich denke, ich gehe durch den Tresor zurück …« Er verstummte, machte aber keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Ich nickte nur. Dann wandte er sich ab, fuhr aber noch einmal herum und griff nach meinem Arm. »Du musst es einfach schaffen, damit du wiedergutmachen kannst, was ich verbrochen habe.«
»Das werde ich.«
»Ich weiß.«
Er sah mir ein letztes Mal in die Augen und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Seine Lippen verharrten dort, dann strich er mir durchs Haar und ließ von mir ab.
Er ging ganz langsam auf den Tresor zu, so als wollte er dort am liebsten niemals ankommen. Ich sah ihm hinterher und konnte mich nicht eher abwenden, bis er im gewundenen Gang zum Club verschwunden war. Noch immer tat mir das Herz weh, weil ich wusste, dass der Typ, von dem ich mich da gerade verabschiedet hatte, nicht der Richtige für mich war.
29
Treffen in der Bibliothek
L ance und ich beschlossen, unsere Unterhaltung heute im Büro ganz auf Berufliches zu beschränken, aber bis wir losmussten, redeten und redeten wir. Andächtig hörte er zu, während ich ihm von Anfang bis Ende alles erzählte, jeden einzelnen bizarren Fakt, den Lucian mir anvertraut hatte.
Nachdem er mich mit tausend Fragen gelöchert hatte, meinte Lance: »Das ist echt unglaublich, oder?«
»Ja.« Ich musste ihm zustimmen. Daran hatten wir ordentlich zu knabbern.
»Und du bist sicher, dass das alles so stimmt?«
»Vermutlich schon.«
Diese Frage konnte ich ihm nicht verübeln. Die hätte ich vermutlich auch gestellt, aber ich war ihm durch das Buch bereits einen Schritt voraus. Zurück in meinem Zimmer hatte ich dort nämlich einen Blick hineingeworfen, und es hatte mir Lucians Worte bestätigt.
Was du gehört hast, trifft zu. Du bist ein Engel in der Ausbildung. Es handelt sich dabei um eine mächtige, kraftvolle Position, der du alle Ehre machen solltest. Du bist jetzt hier, weil man dich auf die Probe stellt. Das Gute kann man nur prüfen, indem man es mit Bösem umgibt und so dazu zwingt, wieder die Oberhand zu gewinnen. Vertrau in das Wissen, das man dir mitgegeben hat, und strebe nach neuen Erkenntnissen.
Von dieser ganzen Engelgeschichte erzählte ich Lance nichts. Das musste ich selbst erst einmal verdauen. Aber ich machte mir schon Gedanken. Immerhin verfügte er ebenfalls über irgendwelche Kräfte, worin auch immer die bestanden. Unsere Narben und unsere Kindheit gaben mir natürlich zu denken. Im Moment behielt ich das einfach mal im Hinterkopf. Vorläufig wollte ich aber von einer seiner weniger mystischen Fähigkeiten Gebrauch machen.
»Hey, ich habe da übrigens ein Projekt für dich. Ich weiß zwar nicht, ob das möglich ist, aber wenn es einer hinkriegt, dann du.«
»Ich bin gespannt«, sagte er. »Schieß los.«
Bei Einbruch der Dunkelheit stand ich gerade an der Rezeption, um die Speisekarten für den Abschlussball abzuholen, als ich sie sah. Sie durchschritt die Lobby vom Aufzug her, der zum Tresor führte. Zuerst dachte ich, dass ich es mir vielleicht nur einbildete, aber nein, das war wirklich Michelle, hier im Lexington Hotel. Erleichterung überkam mich, wie
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