Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
nicht zu Ende? Weshalb sollte jemand so viel Arbeit in ein Projekt stecken, den schwierigsten Teil meistern und es dann nicht fertigstellen?
»So etwas muss ich mir von dir nicht anhören.« Aurelias Stimme bebte. »Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen – es gibt hier ein Protokoll, und daran halte ich mich.«
»Was ja auch wunderbar ist, aber jetzt hat sich nun mal diese Situation ergeben, obwohl wir unsere Anstrengungen bei der Rekrutierung verstärken. Das ist eben der momentane Stand der Dinge.«
»Ich befürchte, dass das alles unseren Zeitplan durcheinanderbringt.«
»Ich arbeite ja, so schnell ich kann, Aurelia.«
»Wir reden später weiter. Und jetzt kümmere dich endlich um sie.«
Darauf erwiderte Lucian nichts mehr.
Ich drehte den Hahn auf und fuhr mit den Fingern durch die Borsten, mein Blick war jedoch auf die Lüftung gerichtet. Scharfes, spitzes Absatzklappern verließ die Galerie. Zehn Sekunden später folgte ein langsameres Schlendern. Nach ein paar Schritten verstummte es, als ob Lucian es sich noch einmal anders überlegt hätte, doch dann ging er weiter, durch die Tür hinaus, die hinter ihm zufiel.
Auf dem Weg zur L, Chicagos Stadtbahn, sprachen Lance und ich kaum ein Wort. Die bittere Januarkälte gab uns einen guten Grund zu schweigen, es brachte schließlich nichts, durch klappernde Zähne hindurch etwas über den brausenden Wind hinwegzubrüllen, der an uns zerrte.
Es war ruhig im Art Institute, bis auf ein paar Schulklassen war kaum jemand da, und als wir das Museum erst einmal betreten hatten, verspürte ich eine gewisse Leichtigkeit. Die eiserne Kralle, die mein Herz umfangen hatte, löste sich, und ich fühlte mich wieder wie ich selbst. Lance schien es auch so zu gehen – sein Schritt verlangsamte sich, er ließ die Schultern sinken, die er die ganze Zeit angespannt bis zu den Ohren hochgezogen hatte, und nahm wieder seine typische schlaksige Haltung ein. Wir griffen nach einer Karte der Räumlichkeiten und stiegen die riesige Treppe in der Mitte des Gebäudes hinauf. Endlich durchschritten wir einen von Säulen umgebenen Bogengang, der uns zu dem gesuchten Raum führte.
»Wieso kanntest du denn Boschs richtigen Namen, wenn du nicht einmal wusstest, dass er Niederländer ist?«, fragte ich flüsternd. Der ganze Marmor nahm jedes Geräusch auf und verstärkte es, so dass meine Stimme viel kraftvoller klang.
»Ich war eben aufgeregt«, wisperte Lance zurück und suchte die Wände nach den beiden Bildern ab, die wir uns ansehen sollten.
»Mich macht sie auch ganz nervös.«
»Also, Lucian gegenüber hast du dich ja ganz cool gegeben.« Lance konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
»Ich bekenne mich schuldig.«
Endlich entdeckten wir, was uns hergeführt hatte. Die beiden Werke waren so wichtig, dass man ihnen jeweils eine eigene Wand zugestanden hatte. Erstaunt stellte ich fest, dass der Garten der Lüste dem Paradiso-Teil des Triptychons ziemlich ähnlich sah, aber eben im Grünen und nicht in einer kargen, hässlichen Landschaft mit einem Blutsee angesiedelt war. Zwei Drittel davon waren ein Garten, das letzte Drittel zeigte eine Höllenlandschaft – da wurde eher wenig poussiert. Die Sieben Todsünden waren eine wilde, runde Angelegenheit, die in die einzelnen Verstöße unterteilt war. Vier Kreise stellten den Tod, das Jüngste Gericht und ähnlich Einschneidendes dar.
»Ich bin froh, dass wir uns die mal angeschaut haben«, flüsterte ich, nachdem wir beide Bilder in aller Ruhe studiert hatten. »Aber deshalb kann ich es trotzdem noch lange nicht nachmachen. Ich fürchte, ich würde nicht einmal die Farben so hinbekommen.«
»Ich weiß. Ich bin mir gar nicht sicher, was die eigentlich von uns wollen.«
»Aber es ist schön, mal rauszukommen.«
»Ich muss nicht gleich wieder zurück, also, wenn du es auch nicht eilig hast …« Und so schlenderten wir in den nächsten Saal und dann noch weiter zu den anderen. Wir betrachteten Werk für Werk sorgfältig und in aller Ruhe, um auch ja nichts zu verpassen, trennten uns in jedem Raum, schlugen aber nie völlig gegensätzliche Richtungen ein.
Gerade hatten wir den Saal mit französischen Künstlern des 19. Jahrhunderts betreten, als es mich plötzlich packte. Das Gemälde hing ganz hinten an der Wand, starrte zu mir herüber, und ich marschierte schnurstracks darauf zu, ohne links und rechts noch irgendetwas anderes wahrzunehmen. Die junge Frau auf dem Bild lag in seichtem, dunklem Wasser, ihr waren die Hände
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