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Das dunkle Erbe

Das dunkle Erbe

Titel: Das dunkle Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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seiner Mutter, wie gebildet die Deutschen seien. Dass sie Konstantinos Kavafis kannten. Als er merkte, welchem Irrtum er aufgesessen war, lachte er darüber.«
    »Wie geht das Gedicht denn?«
    »Ich krieg es nicht mehr zusammen, hab mir nur ein paar Zeilen gemerkt. Als ich sechzehn, siebzehn war, konnte ich es auswendig.« Photini überlegte. »Bewahre stets Ithaka in deinen Gedanken. Dort anzukommen ist dein Ziel. Aber beeile dich auf der Reise nicht. Besser, sie dauert lange Jahre.«
    »Aha.«
    »Es geht noch weiter. Man soll erst als alter Mann vor der Insel ankern, reich an Erfahrungen, aber ohne die Erwartung, dass Ithaka dir etwas schenkt.«
    »Warum?«
    »Weil es dir eine schöne Reise beschert hat. Ohne Ithaka wärst du nicht aufgebrochen. Am Ende begreifst du von allein, was es bedeutet.«
    »Ithaka?«, fragte Raupach.
    »Es enttäuscht dich nicht, auch wenn es ganz anders ist, als du es dir erhofft hast.«
     
    DER FISCH war phantastisch, Dorade in einer Salzkruste. Doch Raupach und Photini nahmen den Geschmack nur am Rande wahr. Der Kommissar übertrug den Sinn des Gedichts auf die Situation seines Freundes, und Photini freute sich, das in Gang gesetzt zu haben. Der Weg ist das Ziel, klar, aber Kavafis ließ sich nicht auf so eine simple Formel bringen. Sie diskutierten und gelangten zu der Frage, warum Raupach überhaupt so viel Sympathien für die griechische Antike besaß. Ob das nur dem Pennälerstolz von früher geschuldet war, als Felix und er den Anfang der »Odyssee« wie eine Grußformel benutzten und Altgriechisch noch den Hauch des Exklusiven, Exzentrischen besessen und das fremdartige Alphabet wie eine Geheimschrift ausgesehen hatte.
    »Ein echter Freund, Fofó, ist mehr wert als tausend Reime. Aber die Reime helfen dir, an deinen Freund heranzukommen.«
    »Auf seiner Reise nach Ithaka«, ergänzte Photini.
    »Steht Ithaka für den Tod?«
    »Für die Summe des Lebens und für die Ansprüche, die du daran stellst. Für deine Absichten, Pläne, Ideen.«
    »Die verändern sich im Laufe der Zeit.«
    »Ja.« Photini leerte den Rest des Weines in ihre Gläser. »Das tun sie wohl.«
    Raupach hatte schon seit längerem den Eindruck, als berührte Photini sein Bein. Mit der Spitze ihres Schuhs kam sie hin und wieder an seine Wade. Vermutlich Zufall.
    Sie entschlossen sich zu einem Brandy, die Polizeiarbeit war vergessen. Photini sagte, sie wollte den Wagen stehen lassen und ihn erst am nächsten Morgen holen. In ihren Wohnungen erwartete sie nichts und niemand. Raupach hatte vor einigen Monaten zwar angefangen, Bilder zu malen, es war sein einziges Hobby, ein Versuch, den Vorgängen um sich herum Gestalt zu verleihen, doch momentan drängte ihn nichts an die Staffelei.
    »Deine Eltern bedeuten dir viel, nicht wahr?«, sagte Raupach und wies im Lokal umher. »Deine Familie.«
    »Sie sind immer da, wenn ich sie brauche. Ich kann’s mir gar nicht anders vorstellen.«
    »Deine Mutter stammt aus Deutschland.«
    Photini lächelte. »Sie hat sich auf Anhieb in meinen Vater verliebt.«
    »Kein Wunder, wenn ich an diese Ithaka-Geschichte denke.«
    »Misstrauen bringt dich nicht weiter, nicht bei den wirklich wichtigen Dingen.« Sie lehnte sich zurück und betrachtete den Brandy in ihrem Glas, schwenkte die bernsteinfarbene Flüssigkeit und sah ihr dabei zu, wie sie von den Rändern herabrann. »Das ist wie beim Autofahren. Wenn du immer nur auf die anderen achtest, wenn du dich dauernd fragst, wer zum Überholen ansetzen, wer ausscheren oder abbremsen könnte, kommst du viel langsamer ans Ziel. Und du wirst so nervös, dass du am Ende tatsächlich Fehler machst.« Sie prostete ihm zu und behielt den Brandy eine Weile im Mund. »Irgendwann merkst du, dass du dir selber misstraust.«
    »Ist es nicht besser, mit allem zu rechnen?«
    »Ja, aber nur unterschwellig. Dann bleibst du offen fürs Reelle.«
    Dann spürte er es wieder, Photini tippte mit ihrem Sneaker an seine Wade. Sie schaute dabei in eine ganz andere Richtung, von ihm weg, als verfolge sie einen fernen Gedanken.
    Raupach dachte an den Altersunterschied. Sie waren mehr als zehn Jahre auseinander. Er war ihr Vorgesetzter, sie kannten sich im Grunde nur beruflich. Die wenigen Male, als sie privat ausgegangen waren, hatten sie sich in erster Linie über ihre Todesermittlungen unterhalten. Frage-und-Antwort-Spiele, bei denen Photini irgendwelche Hypothesen aufstellte und Raupach Kommentare dazu entlockte. Das hatte sich in letzter Zeit gewandelt, Photini

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