Das dunkle Erbe
war eigenständiger geworden, verhielt sich weniger konfrontativ, vermied es zu provozieren.
»Was sagte dein Vater, als du zur Polizei gegangen bist?«, fragte er.
»Das hat ihm gar nicht gefallen. Die da oben und die da unten, du weißt schon. Ich hab ihm erklärt, dass wir dazwischenstehen, genau in der Mitte. Dass wir unparteiisch sind.«
»Sind wir das?« Dass sie intelligent war, kam noch dazu, dachte er. Alles griff harmonisch ineinander, wenn sie sich so unterhielten.
»Na ja, momentan haben wir es vor allem mit reichen Leuten zu tun. Diese Häuser in Marienburg werden wir uns nie leisten können, Klemens, dafür reicht’s einfach nicht. Aber wir behandeln diese Gesellschaft wie jedermann, das sind wir ihnen schuldig, alles Staatsbürger. Obwohl sie sich gegenseitig umbringen.«
»Das ist nicht gesagt.«
»Irgendwas ist faul mit Evas Vergangenheit, es hat mit dieser Villa zu tun, mit den Menschen, die dort ein und aus gehen – oder gingen. Ich traue keinem von denen über den Weg, weder den Lebenden noch den Verstorbenen.«
Wenn Photini sich über etwas aufregte, war sie besonders schön. Wie sie ihre dicken schwarzen Locken nach hinten warf, die leichte Wölbung der Nase, der strenge Strich ihrer Augenbrauen. Raupachs Bein ruhte auf ihrem. Er bewegte es ein bisschen, rieb an ihrer Jeans, was man auch als ein Sich-zurecht-Setzen interpretieren konnte. Sie zog ihr Bein nicht weg, schaute immer noch woandershin.
»Was ich vorhin über Misstrauen gesagt hab«, fuhr Photini fort. »Als Heide diesen Schlag abgekriegt hat, dachte ich mir wieder mal, was für einen gefährlichen Job wir haben. Du verfolgst einen Verdächtigen, und plötzlich ist es aus.«
»Damit hab ich ja meine Erfahrungen«, sagte er gedehnt.
Wie dumm, an diese Geschichte hatte sie nicht gedacht. Raupach schloss einfach nicht damit ab. »Na und? Damit bist du doch durch. Du hast einen Mann unschädlich gemacht, der einiges auf dem Kerbholz hatte. Er war unbewaffnet, aber das konntest du nicht wissen. Es war mehr als wahrscheinlich, dass er eine Pistole ziehen und andere in Gefahr bringen würde.«
»Ich habe mich nicht vergewissert.«
»Wenn ich in so einer Situation mal dabei sein sollte, hoffe ich sehr, dass du schießt.«
»Um dich zu beschützen?«
»Dich und mich.« Jetzt sah sie ihn an, kurz, ernst. Kein verstohlenes Lächeln als Zeichen, was sich da anbahnte. Ein Glanz in den Augen, aber das mochte auch am Brandy liegen.
Wie das wohl wäre, wieder mit jemandem zusammenzuleben, fragte sich Raupach, Zimmer und Möbel zu teilen, die Körpergerüche der Nacht, die Atemluft beim Aufwachen. Photini war bestimmt nicht auf ein kurzes Abenteuer aus. Was empfand sie für ihn? Was erwartete sie? Kinder? Vielleicht nicht sofort, aber bei ihrem Familiensinn war das sehr wahrscheinlich. Er würde sich um ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern bemühen, ein paarmal im Jahr mit nach Griechenland fahren, sich ihren Verwandten vorführen lassen. Im Delphi konnte er ab und zu aushelfen, wenn das gewünscht war, seine Dienstzeiten herunterschrauben, Lürrip um einen ruhigeren Posten bitten. Andere Prioritäten setzen.
Sie nahm ihr Bein weg. Als habe sie seine Gedanken erraten und sich dagegen entschieden.
Freunde? Freunde. Was hatte er sich bloß eingebildet?
Photini stand auf. Die Spannung verflog. Die Geräusche im Delphi drangen wieder zu ihrem Platz herüber.
»Vertrauen.« Raupach fühlte sich verpflichtet, noch etwas zu sagen. »Wem sonst als dir?«
Im Hinausgehen legte sie ihm die Hand auf die Schulter, halb auf die Brust, in die Nähe seines Herzens. Länger als es eine beiläufige Geste erforderte. Testweise, irgendwie. Dann verschwand sie Richtung Toiletten.
Er starrte an die Decke. Da hatte er alles wieder auf die Reihe gebracht, seine angeknackste Karriere, sein Selbstbewusstsein, seine Unerschütterlichkeit. Sogar seine Erinnerungen wurden verlässlicher. Und Photini gelang es, das alles mit der Spitze ihres Fußes in Schwingung zu versetzen.
Sie war nicht lange weg. Er spürte, dass sie zurückkam, hinter ihm stehen blieb. Wenn sie ihn von sich aus berührte, wären alle Zweifel beseitigt. Sollte er aufstehen und es abkürzen? Eine Umarmung, und alles Weitere würde sich ergeben.
»Ich weiß nicht, wie ich es am besten sagen soll …«, begann sie.
Raupach drehte sich um. Photini, sonst jeder Situation gewachsen, rang mit den Worten. Ihre Hilflosigkeit hatte etwas Rührendes, Verletzliches. Wie jung sie plötzlich
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