Das dunkle Erbe
stellte es ein unkalkulierbares Risiko dar. Es war ein Schritt, der nicht mehr rückgängig zu machen war und alles veränderte. Mit Heide und Klemens hatte es auch nicht geklappt.
Aber das lag viele Jahre zurück, so lange, dass die beiden darüber Witze rissen. Gelegentlich.
Photini hatte ihn gern, sehr gern. Oder war das nur Dankbarkeit? Vielleicht Tochtergefühle, wie Heide gern unterstellte?
»Warum starrst du so auf die Akropolis?« Höttges wies auf die blau angestrahlte Scheußlichkeit auf einem Wandbord über Raupachs Kopf.
»Ich denke nach. Stört es dich?«, gab Photini zurück.
Höttges konzentrierte sich wieder auf seinen Oktopussalat. Der war richtig gut, mit viel Zitrone, aber überhaupt nicht sauer. Nur die Portion hätte etwas größer sein können.
Photini musste grinsen. Es fehlte nicht viel, und sie brach in Lachen aus. Erwachsene Menschen schlichen auf Zehenspitzen um ihre Gefühle herum.
»Bis dann.« Raupach zahlte und stand auf. Er nickte Photini zu und wies mit dem Kopf auf das tanzende Paar. »Wenn es bloß so einfach wäre.«
DER HEIMWEG führte ihn durchs Agnesviertel und durch Nippes. Schaufenster, Kneipenschilder, Imbissbuden, jede Farbe ein Gruß. Hier kannte ihn niemand. Er war nicht der Bulle vom Veedel, nur wenige Nachbarn wussten, dass er Polizist war. Zu Hause zahlt man Miete und hält die Klappe. Und man ist selten da.
Raupach wohnte in einem Haus in der Gneisenaustraße. Unter der Straßenbeleuchtung sah es aus wie ein grüner Knollenblätterpilz, die Fassade hübsch heruntergekommen, die Klingelschilder schwer lesbar. Am Untergeschoss das Schild »An- und Verkauf von Klavieren und Flügeln«, ein Vorkriegsgeschäft, längst aufgelöst.
Jeden Tag fiel ihm dazu eine andere Geschichte ein, im Treppenhaus spann er sie Stufe für Stufe aus. Er fragte nie beim Vermieter nach, was es mit der alten Reklame auf sich hatte. Bei den vielen Geheimnissen, die er von Berufs wegen aufdeckte, wollte er ein paar unangetastet lassen.
Sollte er zum Einschlafen noch eine DVD mit dem Fernsehmaler einlegen? »There we go. Start making some decisions! You really can do it! We have no limits to our little world.« Eine Welt mit Bergen, Büschen, Bäumen und irgendeinem Gewässer, See, Wasserfall, so lief das jedes Mal ab. Manchmal klatschte der Mann eine Hütte mitten in die sorgfältig hingepinselte Waldeinsamkeit. Wenn Platz dafür war.
Stets beruhigten Raupach die schrittweise wachsenden Gemälde auf dem Bildschirm. Sie vertrieben unerwünschte Gedanken. An deren Stelle traten schlichte Fragen nach Farbwahl, Mischungsverhältnissen und Maltechnik, begleitet vom hypnotischen Zureden des Mallehrers.
Das dauerte ihm jetzt zu lang. Er nahm zwei Baldriantabletten, die brachten auch Photinis Gesicht zum Verschwinden. Er träumte von niemandem. TEE, DARJEELING, nicht zu heiß. Hering in Senfsoße, mit Graubrot und Butter. Im Lokalradio eine Meldung über die ungelösten Frauenmorde, das dritte Opfer Eva von Barth und die Festnahme des Arztes Bernhard S. Man wisse aus gutunterrichteten Kreisen, dass die Polizei inzwischen die Vergangenheit einer Marienburger Jugendstilvilla in die Ermittlung einbeziehe. Eine Andeutung, dass in den Fällen vielleicht eine unvermutete Brisanz stecke.
Damit konnte Raupach leben. Er beendete sein Frühstück, nahm die nächste Bahn und gelangte nach zweimaligem Umsteigen zum Krankenhaus. Es dauerte eine Weile, bis er Heide in der weitläufigen Klinik fand. Sie saß auf einer Bank im Innenhof und rauchte. Mit ihrem turbanartigen Kopfverband sah sie aus wie Nofretete.
Er beugte sich vor und umarmte sie behutsam.
»Bin nicht aus Zucker.« Ihre Stimme klang noch ein wenig rauer als sonst. »Schick, oder?« Heide zeigte ihm den POLIZEI-Aufdruck auf ihrem Trainingsanzug, Höttges hatte ihn ihr gestern aus der Kleiderkammer des Präsidiums gebracht. Es war kein Scherz gewesen.
»Bist du sicher, dass dir das guttut?« Raupach setzte sich neben sie und wies auf die brennende Zigarette.
»Was soll ich sonst machen? Von Musik krieg – Kopfweh, vom Lesen auch. Einen Schießstand – leider nicht.«
»Wie wär’s mit Ausruhen?«
»Hab – gestern den ganzen Tag gemacht. Nur geschlafen.«
»Gut.«
»Mal was anderes.«
Sollte Raupach ihr sagen, dass sie immer noch Wörter wegließ oder verschluckte? Im Vergleich zum Vortag, als Heide ihre Antworten auf Zettel geschrieben hatte, war es allerdings schon viel besser geworden. »Diese Sprachstörung«, sagte er
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