Das dunkle Erbe
schließlich, »tut mir leid, wenn ich es erwähne, wie ernst ist das?«
»Gibt sich wieder. – soll nur nicht so viel reden.« Ein schiefes Lächeln.
»Dann übernehme ich das für dich. Signalisiere mir nur ja oder nein.«
Sie nickte kaum merklich. Aus der Nähe betrachtet, wirkte ihre Haut grau und ausgezehrt, die Augen lagen tief in den Höhlen, die Lippen waren trocken und zerfurcht. Auf ihrem Handrücken war mit einem Pflaster eine Kanüle befestigt. Es hatte sie ganz schön erwischt. In ihrem Alter steckte man das nicht mehr so leicht weg.
Erst Felix in der Klinik, überlegte Raupach. Und jetzt Heide, wenn auch aus völlig anderem Anlass. Es war ein bisschen viel auf einmal, immer kam es doppelt und dreifach, das kannte er schon. Als würde das Schicksal die Situation ausnutzen und nur darauf warten, dass man sich eine Blöße gab.
Die Sonne schien schwach, immerhin. Raupach schaute sich in dem quadratischen Innenhof um. Die Seite, auf der sie saßen, lag im Schatten. Eine Reihe junger Bäume war mit Stricken an dicken Holzpflöcken festgebunden, damit sie gerade wuchsen. Eine Parzelle müder Rasen, asphaltierte Wege, ansonsten überall Waschbeton.
»Eigentlich dürfte ich dich damit ja nicht belästigen«, fing er an. »Du musst dich auskurieren, eine Zeitlang abschalten. Aber du wärst sicher sauer, wenn ich es dir vorenthalten würde.«
Er holte eine Farbkopie des Schriftstücks, das sie im Biedermeiersekretär der Ärztin gefunden hatten, aus der Jackentasche, reichte es Heide und erzählte ihr, was es damit auf sich hatte, die Geheimfächer, die Briefe, all die Umstände drum herum. Eva von Barths Lebenslauf, soweit sie ihn kannten. Dass sie von einer verschlüsselten Botschaft ausgingen und nicht wussten, wer der Verfasser war.
Heide warf ihre Zigarette weg und betrachtete die sechs Zeilen. Sie überlegte nicht lang. »Schatzkasten.«
»Was?«, fragte Raupach.
»Barock. Die roten Buchstaben – Anfang, war beliebt. Poe –, poetisches Abc.«
Sein Vorschlag, Heide die Verständigung zu erleichtern, fiel ihm ein. Ja und nein. Aber was konnte er sie fragen? »Der Text stammt aus dem Barock?«
Heide zeigte ihm den Vogel und deutete auf neuzeitliche Wörter, »Moderne«, »Revolutionäre«.
»Meinst du, das ist einem barocken Gedicht nachempfunden?«
Sie applaudierte.
»Mit dieser Epoche kennst du dich ja aus. Warum, ist mir ein Rätsel.«
»Ignorant.«
»Sei nicht ungerecht. Photini hat gestern aus einem griechischen Gedicht zitiert, über Ithaka. Wir sind so etwas wie die Poesietruppe der Kölner Polizei.«
Heide machte ein Gesicht, als bereite ihr das Lächeln starke Schmerzen.
»Also im Barock hat man sich solche poetischen Aufzählungen ausgedacht, mit Anfangsbuchstaben in der Reihenfolge des Abc.«
Er fuhr mit dem Finger über die Zeilen. »Alte Büchsen und Codices, Dichtungen über den Einen.«
Nicken.
»Aus Spielerei?«
Zweifelndes Kopfwiegen.
»Um den Leuten zu vermitteln, dass alles eine Ordnung hat?«, versuchte es Raupach. »Eine vollständige Ordnung, von A bis Z, Alpha und Omega, wie in der Bibel.«
Wieder Nicken.
»Damals fiel die Welt ja auseinander, Dreißigjähriger Krieg und all das.«
»Gab’s früher schon«, sagte sie.
»Gut, aber was meinst du mit Schatzkasten?«
Heide holte Zettel und Stift aus ihrer Hosentasche und schrieb es auf. Sorgfältig reihte sie die Buchstaben aneinander. Am Ende wirkte es trotzdem wie die Schrift eines Erstklässlers, mit jeder Menge Fehlern.
Nach und nach machte sich Raupach einen Reim auf die krakeligen Notizen. »Schatzkasten« oder »Schatzkästlein« war im Barock ein anderer Ausdruck für ein Handbuch mit Redewendungen, Gedichten und symbolischen Ausdrücken. Es war eine Sammlung, eine Art Kunst- und Wunderkammer, wie Raritätenkabinette damals genannt wurden, im übertragenen Sinn eine Schatzkammer, die Gold, Silber, Juwelen und Wertgegenstände aller Art enthalten konnte, auch Kunstwerke oder Trophäen, wie es in dem Text hieß. Abc-Gedichte stellten so etwas wie die Kurzform eines Schatzkastens dar, ein Inhaltsverzeichnis. Später nahm ein Schriftsteller namens Hebel den Titel »Schatzkästlein« für seine volkstümlichen Geschichten auf.
»Aber der Zettel aus dem Geheimfach«, begann Raupach schließlich, »das ist doch nicht das Geschreibsel eines verhinderten Dichters, der mal so tun wollte, als könne er das auch.«
Zur Bestätigung schüttelte Heide den Kopf.
»Vielleicht ist es die Auflistung eines realen
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