Das dunkle Erbe
Fahrt war etwas ruckelig.
»Möchten Sie mit reinkommen?«, fragte Sharon. »Bestimmt wollen Sie meine Angaben überprüfen.«
Raupach lächelte. »Wenn Sie es mir so leicht machen.«
»Vielleicht habe ich Ihnen ja was vorgespielt.«
»Dann war es sehr überzeugend.«
Fünf Zimmer auf einer Etage. Die Wirtin war mit einem Sudoku beschäftigt. Sharon wechselte ein paar Worte mit ihr und führte Raupach in einen schlicht möblierten Raum. Sie zeigte ihm eine Mappe mit Fotokopien, Auszüge aus den Verzeichnissen mehrerer Auktionshäuser, Ausdrucke aus dem Internet, Ergebnisse ihrer Recherchen.
Was sie über Ernst Wenzel gesagt hatte, stimmte, soweit das zu überprüfen war. Raupach wandte sich zum Gehen.
»Darf ich Sie zum Essen einladen?«
»Warum nicht?«, gab er verdutzt zurück.
»Ich machte mich schnell frisch. Fünf Minuten?«
»Ich warte am Eingang.«
»Gehen Sie nicht weg«, witzelte sie.
Die Wirtin beachtete ihn nicht, ihr Zahlenrätsel nahm sie voll in Beschlag. Raupach nutzte die Zeit, um Felix im Krankenhaus anzurufen.
Es klingelte eine Weile, er wollte schon wieder auflegen.
»Klex?«
Das war Raupachs Spitzname in der Jugend. Er hielt die Regeln ihres alten Begrüßungsrituals ein und zitierte den Anfang der Odyssee auf Altgriechisch. »Andra moi ennepe, mousa, polytropon …«
»Hos mala polla«, fuhr Felix fort. »Und so fort. Den Rest weiß ich nicht mehr.« Er klang müde.
»Du hast doch ein besseres Gedächtnis als ich. Jede Kleinigkeit hast du dir immer gemerkt, absurde Details, auf die ich nie geachtet habe. Wer konnte denn Asterix auswendig?«
»Morituri te salutant.«
»Die Todgeweihten können also noch sprechen«, versuchte es Raupach.
»Sie grüßen dich.«
Stille.
»Was soll das heißen?«, fragte Raupach.
»Dass die Antikörper-Therapie nicht angeschlagen hat.«
Eine Behandlung mit biologischen Wirkstoffen war so etwas wie der letzte Versuch nach der fehlgeschlagenen zweiten Chemoserie. In den USA und in Großbritannien hatten die Antikörper gute Ergebnisse erzielt. Bei einer chronischen lymphatischen Leukämie bedeutete das: 25 Prozent der Patienten erfuhren eine komplette Remission und wurden wieder gesund.
Aus Aberglauben hatten die beiden Freunde kein Wort darüber verloren. Seit dem ersten Befund waren ihre Gespräche um Quoten gekreist. Wie standen die Heilungschancen? 50 zu 50? 60 zu 40? 70 zu 30? Je nach Studie besser oder schlechter. Es waren dürre Zahlenspiele, Felix hatte sie schnell verworfen. Er war kein Rennpferd, auf das man Wetten abschloss.
»Das war’s dann«, sagte er, weil Raupach schwieg.
»Hör auf. Die Hoffnung stirbt zuletzt.«
»Weil es mir zwischendurch besserging? Ich hasse Floskeln.«
»Vor einer Woche haben sich deine Blutwerte doch normalisiert, aus heiterem Himmel. Obwohl niemand damit gerechnet hat.« Raupach klammerte sich an jedes Rettungsseil. Für Felix und für ihn selbst.
»Hat nicht vorgehalten.«
»Das kann doch wieder passieren«, versuchte es Raupach.
»Wird es nicht. Ich spreche nicht mehr auf die Therapie an. Die Ärzte haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft.«
»Aber du kriegst doch Medikamente.«
»Sonst könnte ich gar nicht den Hörer halten.« Felix atmete mehrmals durch. Er bekam zu wenig Luft. »Wir gehen in die Zielgerade, Klex.«
»Soll ich kommen?«, fragte Raupach.
»Was machst du denn momentan?«
»Ich warte auf eine Verdächtige. Nein, eine Zeugin. Nein, Sharon ist … eine Verbündete.«
»Bist ja ganz schön durcheinander.«
»Hört sich wohl so an.«
»Gefällt sie dir?« Felix drehte sich leicht in seinem Bett. Er war an mehreren Stellen wundgelegen.
»Wenn du mich so fragst: Ja.«
»Ist sie hübsch?«
»O ja.«
»Beschreib sie.«
»Sie macht das Gleiche wie ich. Auf eine andere Art, sie ist Journalistin, aus den USA.«
»Solche Leute drehen Steine um«, wandte Felix ein. »Jeden, der ihnen vielversprechend erscheint. Aber sie rollen keinen Stein den Berg hinauf. Das ist ihnen zu beschwerlich.«
»Kommt auf den Stein an. Welche Bedeutung er für sie hat.«
»Sei bitte auf der Hut.«
»Das bin ich doch immer.« Raupach mochte nicht widersprechen.
»Du hast dir also eine angelacht. Muss ja nicht gleich was Längerfristiges sein.« Felix schlug einen unbeschwerten Ton an. »Sharon klingt jüdisch, intellektuell, Ostküste. Für den Anfang ganz gut. Wie ist sie dir denn über den Weg gelaufen?«
»Heute Morgen trug sie noch Handschellen.«
»Lass mich raten. Du hast sie von ihren
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