Das dunkle Fenster (German Edition)
Lappen gegangen ist, haben sie Straßensperren errichtet.“ Er trank in hastigen Zügen. „Vor zwei Stunden haben sie an einem Checkpoint einen flüchtenden Wagen verfolgt. Dabei haben sie ein Fahrzeug und drei Männer verloren. Der Kerl hat nämlich“, er stellte das Glas auf den Tisch, „auf den Fahrer geschossen und die Syrer von der Straße gedrängt. Nur ein Mann hat den Unfall überlebt.“
Levs Augen wurden schmal. „Und es war sicher Fedorow?“
„Anzunehmen. Sie sagen, dass der Mann einen dunkelblauen Ford Taurus fuhr. Das könnte Samis Wagen sein.“
„Aber sie wissen nicht, wo Fedorow jetzt ist?“
Irgendwo im Nordlibanon. Irgendwo in den Bergen. Zusammen mit Carmen, die sich vermutlich noch immer in seiner Gewalt befand. Ihre Leiche war bisher nicht gefunden worden, daran klammerte er sich.
„Uns geht die Zeit aus“, sagte Katzenbaum.
„Ich weiß“, fuhr Rafiq auf. „Shoufani hat versprochen, dass sie auch weiter die Augen offen halten. Die können sich nicht in Luft auflösen.“
Er dachte an Sami, der sich schlafen gelegt hatte. Abgesehen von ein paar Prellungen und heftigen Kopfschmerzen hatte er den Zusammenstoß mit Fedorow unverletzt überstanden. Tal und Sofia waren losgezogen, um etwas zu Essen zu besorgen. Rafiq war nicht sicher, ob zwischen den beiden nicht etwas lief. Nun, er gönnte es ihnen. Er konnte ohnehin nur noch an Carmen denken.
31
Südlibanesische Sicherheitszone | März 1992
Das Treffen fand in einem Hof statt, der zum Gefängnisgelände gehörte. Die Wachen standen weit genug entfernt, um die Illusion privater Abgeschiedenheit aufrecht zu erhalten. Katzenbaum hatte sich zurückgezogen. Zehn Minuten, dachte Rafiq. Carmen wartete bereits auf ihn. Sie stand an der rückseitigen Mauer und starrte ins Leere. Als er sich näherte, reagierte sie nicht. Rafiq erschrak, als er sah, wie dünn sie geworden war. Ihre Haut wirkte durchsichtig und zeigte einen bläulichen Schimmer, so als ob sie fror. Aber sie zitterte nicht. Sie stand einfach nur da und sah ihn an. Sie hatten ihr die Haare kurz geschoren, ihr Gesicht wirkte sehr jung. Der Anblick verengte seine Kehle.
„Wie geht es dir?“, fragte er.
Unwillkürlich streckte er seine Hand nach ihr aus. Seine Finger berührten ihr Haar, ihre Wange, glitten über ihr Kinn. Carmen ließ es geschehen. Sie wirkte seltsam unbeteiligt. Das verstörte ihn. Er empfand das starke Bedürfnis, sie an sich zu ziehen, wagte es aber nicht. Sie sah so zerbrechlich aus.
„Bitte“, sagte sie leise. „Hol uns hier raus.“ Ihre Augen veränderten sich. Sie blinzelte ein paar Mal. Er sah, dass sie weinte.
„Was haben sie mit dir gemacht?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich ertrage das nicht mehr“, flüsterte sie. „Ich kann es nicht ändern. Aber ich halte das nicht länger durch. Sie sagen, es hätte mit dir zu tun. Ich ...“, ihre Worte erstickten in einem Schluchzen, „ich weiß nicht, was ich machen soll.“
Rafiq streckte auch den anderen Arm aus. Mit einer kleinen Bewegung zog er sie an sich. Carmen legte ihr Gesicht gegen seine Schulter. Ein Weinkrampf erschütterte ihren mageren Körper. Er fühlte sich hilflos. Sie erwartete etwas von ihm und er konnte es ihr nicht geben. Diese Begegnung lief ganz anders ab, als er es sich vorgestellt hatte.
‚Zehn Minuten’, hatte Katzenbaum gesagt. ‚Ich kann euch zehn Minuten verschaffen. Du wirst die Frau sehen. Du wirst mit ihr reden können. Aber nicht länger als zehn Minuten. Alles andere ist zu gefährlich.’
Was meinte er mit ‚gefährlich’? Gefährlich für ihn selbst? Oder für Rafiq und Carmen? Aber wem sollte er sonst vertrauen, wenn nicht Katzenbaum? Es gab sonst niemanden in diesem Loch, der auch nur einen Hauch Menschlichkeit besaß. Katzenbaum kümmerte sich um ihn. Er beschützte ihn vor Weiss, soweit das möglich war. Er hatte das Treffen mit Carmen arrangiert.
„Was meinst du?“, fragte er, den Mund dicht an ihrem Haar. „Was muss ich tun?“
„Ich weiß nicht“, stieß sie hervor. „Sie sagen nur, dass es bei dir liegt. Ich weiß nicht, was sie von dir erwarten.“
Ihre Antwort schürte noch das Gefühl der Ohnmacht. Er hatte ihnen alles gesagt. Es gab nichts mehr zu verraten. Keine Geheimnisse, mit denen er sich freikaufen konnte. Er hatte alles hergegeben. Er war nichts weiter als eine leere Hülle, deren Inhalt gewaltsam entfernt worden war. Mein Gott, was sollte er tun?
„Was habt ihr mit Carmen gemacht?“, fragte er mit überkippender
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