Das dunkle Fenster (German Edition)
Feuerwechsel.
Die Unruhe, die seit Larnaca in seiner Brust nistete, flammte mit einemmal auf und verwandelte sich in echte Panik. Er konnte keine Sekunde länger hier oben warten.
„Wo willst du hin?“, brüllte Katzenbaum ihm nach.
Rafiq hörte die Schritte des Katsa hinter sich auf dem Kies, die immer schneller wurden, um ihn doch noch einzuholen.
„Warte, verdammt!“
Rafiq ignorierte seine Rufe. Mit weit ausgreifenden Schritten überquerte er den kleinen Sandplatz, auf dem sie die Autos abgestellt hatten. Nach ein paar Metern begann er zu laufen. Er lauschte auf den Schusswechsel, während er rutschend und um sein Gleichgewicht kämpfend den steinigen Pfad hinunter stürmte. Der Weg schlängelte sich durch ein kleines Waldstück und endete dann abrupt an einem in Terrassen abfallenden Hang zum Meer.
Die Schüsse verstummten. Rafiq stoppte mitten im Lauf. Jäh wurde ihm bewusst, dass er keinen Plan hatte. Er besaß nicht einmal eine Pistole. Was wollte er eigentlich tun? Unbewaffnet hineinstürmen in eine Schießerei, ohne zu wissen, was vor sich ging? Unschlüssig folgte er ein Stück dem trockenen Bachbett, das zwischen den Terrassen nach unten führte, dann blieb er wieder stehen. Dunst hing über der Küste; es war noch immer zu dunkel, um mehr zu erkennen als die Umrisse der Bäume und den hellen Sandstreifen, der die Uferlinie markierte.
Carmen ging die Luft aus, ihre Lungen brannten. Der Schmerz in ihrem verletzten Knie trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie achtete nicht länger darauf, sich geräuschlos zu bewegen. Ihre Verfolger hatten sie längst entdeckt und waren dicht hinter ihr. Sie rannte parallel zum Bachbett, atemlos und in Todesangst, immer weiter bergan.
Ein Stück über ihr tauchte plötzlich eine Gestalt auf.
Carmen stolperte, stürzte auf ein Knie und richtete sich schwerfällig wieder auf. Als sie den Kopf drehte, sah sie, dass ihre Verfolger nur noch ein paar Meter entfernt waren. Die Männer waren zu zweit, sie trugen dunkle Nylonkleidung und Masken, die nur die Augen freiließen. Einer von ihnen hob seine Waffe.
Carmen erstarrte. Die Zeit schien sich zu dehnen. Der Wind verwirbelte ihr Haar und brachte den Geruch von Thymian und frischer Erde mit. Ein Detail, das Carmen in diesem Moment mit unnatürlicher Schärfe erfasste, ebenso wie die Kühle auf ihrer Haut und das Rauschen der Brandung. Der Mann schwenkte das Sturmgewehr ein wenig nach oben, so dass Carmen direkt in die Mündung starrte.
Sein Finger schmiegte sich um den Abzug. Eine Salve löste sich, ein ohrenbetäubendes Stakkato. Nahezu paralysiert verfolgte Carmen, wie der Mann in den Knien einknickte. Er verriss das Gewehr, die Schüsse gingen ins Leere. Dann sackte er zusammen, ohne die Hand von der Waffe zu lösen. Der zweite Mann fuhr herum, zwei einzelne Schüsse krachten in die plötzliche Stille. Die Wucht der Einschläge schleuderte ihn zurück; dumpf schlug er auf den Boden.
Carmen stieß keuchend den Atem aus. Der Schock traf sie mit Verzögerung. Ein Zittern überlief ihren Körper, sie brach auf die Knie.
„Oh Gott“, murmelte sie, ohne zu verstehen, was eigentlich geschehen war. „Oh Gott.“
Wie in Trance schüttelte sie den Kopf, eine gleichförmige Bewegung, mit der sie einfach nicht aufhören konnte. Auch als eine Hand sie an der Schulter packte, dauerte es sekundenlang, bis sie wieder ansprechbar war. Jemand wiederholte ihren Namen. Eine Hand traf sie im Gesicht. Ein leichter Schlag, der nicht schmerzte, der sie aber in die Realität zurückholte. Lethargisch drehte sie den Kopf.
„Carmen“, drängte er, und seine Stimme war rau vor Sorge, „Carmen, alles klar? Ist alles okay?“
„Oh Gott. Oh Gott, sie haben auf mich geschossen.“
Nikolaj trat einen Schritt zurück.
Sie starrte ihn an, während er an seiner Pistole hantierte. „Sie haben auf mich geschossen.“ Ihr Verstand weigerte sich immer noch, das zur Kenntnis zu nehmen.
Mit einem Klicken glitt das leere Magazin aus dem Kolben der Waffe.
„Kannst du gehen?“, fragte Nikolaj. Er tastete nach dem Ersatzmagazin in seiner Hosentasche.
„Ja“, murmelte Carmen. „Ja klar.“
„Gut.“ Mit dem Handballen rammte er das Magazin in den Griff der Beretta. Dann zog er den Schlitten zurück, um die Waffe durchzuladen.
Rafiq fuhr herum, als ganz nah Schüsse krachten. Er erfasste Carmens schmale Gestalt, vielleicht dreißig Meter entfernt. Dicht vor ihr zwei Männer, einer stürzend, das Mündungsfeuer seiner Maschinenpistole
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