Das dunkle Labyrinth: Roman
wieder auf Monk. »Marys Vater hat sich vor knapp zwei Monaten das Leben genommen«, sagte er leise. »Das hat uns sehr erschüttert. Mary und Jenny, meine Frau, waren in tiefer Trauer. Ihre Mutter war schon viele Jahre zuvor gestorben. Meine Frau trug den Schlag äu ßerst tapfer, aber Mary hat er offenbar … aus der Bahn geworfen. Sie weigerte sich, sich damit abzufinden, dass es tatsächlich Selbstmord war, obwohl die Polizei natürlich Ermittlungen angestellt hatte und zu diesem Ergebnis gekommen war. Wir … wir hatten gehofft, dass...«
»Es tut mir leid«, murmelte Monk und meinte es auch so. Er stellte sich Mary vor, wie sie zu Lebzeiten gewesen sein musste – das blasse, vom Wasser nasse Gesicht, wenn es von Liebe, Zorn, Staunen, Kummer beseelt war. »Das ist ein schwerer Schicksalsschlag für jeden.« Wie ein Fausthieb traf ihn jäh die Erinnerung daran, wie sich Hesters Vater ebenfalls das Leben genommen hatte. Der Schmerz war unmittelbar und auf eine Weise so echt, dass er sich mit Worten einfach nicht ausdrücken ließ. »Es tut mir aufrichtig leid«, sagte er noch einmal.
Argyll sah ihn erstaunt an. »Ein Schicksalsschlag … Ja. Ja, das ist es wirklich.« Dass Monk hinter den höflichen Floskeln echte Gefühle durchscheinen lassen würde, schien er nicht erwartet zu haben. »Ich … ich weiß nicht, wie meine arme Jenny das verkraften wird. Es …« Er rang um Worte, versuchte vielleicht immer noch, das alles zu fassen.
»Wäre es für Mrs. Argyll leichter, wenn wir dabei wären?«, fragte Monk. »Dann könnte sie uns Fragen stellen, sofern sie das möchte. Oder wäre es Ihnen lieber, sie unter vier Augen zu unterrichten?«
Argyll zögerte. Er wirkte hin-und hergerissen.
Monk ließ ihm Zeit. Die Uhr auf dem Kaminsims schlug die Viertelstunde; ansonsten herrschte Stille.
Schließlich brach Argyll das Schweigen. »Vielleicht sollte ich ihr die Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen, nicht verwehren. Wenn Sie mich bitte entschuldigen – ich werde es ihr allein sagen und dann abwarten, was sie möchte.« Damit erhob er sich. Monks Einverständnis setzte er offenbar als selbstverständlich voraus. Leicht schwankend ging er hinaus und vermied im letzten Moment einen Zusammenprall mit dem Türpfosten. Er ließ die Tür hinter sich weit offen.
»Armer Mann«, murmelte Orme. »Wenn wir ihm doch nur sagen könnten, dass es ein Unfall war.« Er sah Monk fragend an.
»Das würde ich mir auch wünschen«, stimmte dieser zu. Allerdings schien jetzt vieles darauf hinzudeuten, dass Mary Havilland zumindest vorübergehend ihr seelisches Gleichgewicht verloren hatte, doch das wollte er nicht bestätigen, auch nicht vor Orme.
Der Butler kam und blieb wie ein schwarzer Schatten in der Tür stehen. »Mrs. Argyll hat mich gebeten zu fragen, ob ich den Herren irgendetwas bringen kann. Vielleicht ein Glas« – er überlegte – »Ale?« Er war offenbar nicht bereit, ihnen guten Sherry anzubieten, den sie womöglich nicht zu schätzen wüssten, und schon gar nicht den besten Brandy.
In diesem Moment wurde Monk bewusst, was für einen quälenden Hunger er hatte. Orme musste es genauso ergehen. Vielleicht lag es teilweise daran, dass er immer noch fror. »Danke. Wir kommen direkt vom Fluss. Für ein Sandwich und ein Glas Ale wären wir sehr dankbar.«
Dem Butler war ein leichtes Unbehagen anzusehen, als merkte er erst jetzt, dass er von selbst darauf hätte kommen müssen. »Sofort, Sir«, sagte er mit einer Verneigung. »Wären Ihnen kalter Braten und ein Löffel Senf recht?«
»Das wäre wunderbar«, bestätigte Monk.
Orme dankte ihm herzlich, sobald die Tür ins Schloss gefallen war, und fügte hinzu: »Hoffentlich kriegen wir’s, bevor Mr. Argyll zurückkommt. Wär ja nicht höflich, vor ihm zu essen. Vor allem dann nicht, wenn auch Mrs. Argyll dabei ist. Aber ich glaub eher nicht, dass sie kommt. Damen trifft eine solche Nachricht meistens viel härter.«
Die Sandwiches wurden gebracht und gierig verzehrt. Unmittelbar danach kehrte Mr. Argyll zurück. Doch mit seiner zweiten Annahme sollte Orme sich getäuscht haben: Jenny Argyll hatte den Wunsch, sie zu sprechen. Sie trat sogar vor ihrem Mann ein, eine schöne Frau, die um Augen und Mund ihrer toten Schwester verblüffend ähnlich sah, aber dunklere Haare und nicht ganz so hohe Wangenknochen hatte. Jetzt hatte auch sie jede Farbe im Gesicht verloren, und ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Ansonsten zeigte sie sich angesichts der Umstände außerordentlich
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