Das dunkle Labyrinth: Roman
mit in die Tiefe zu reißen?«, fragte Monk und lenkte seine Schritte in Richtung Westminster Bridge, wo sie am ehesten einen Hansom finden würden. Er hoffte immer noch, dass es ein Unfall gewesen war.
»Ich bin mir nicht sicher«, brummte Orme. »Kam mir nicht so vor, als ob sie versucht hätte zu springen. Allein schon deshalb, weil sie verkehrt herum stand. Wer runterspringt, schaut normalerweise ins Wasser.«
Monk spürte plötzlich Wärme in sich, obwohl der Matsch unter seinen Füßen zusehends zu Eis gefror. Nein, er wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Noch nicht.
Monk kam kurz vor neun Uhr zu Hause an. Das war später als üblich, andererseits war seine neue Stellung ohnehin kaum dazu geeignet, seine Tage zur Routine geraten zu lassen. Selbst wenn er sein Bestes gab, war das vielleicht zu wenig; sein Zweitbestes genügte in keinem Fall. Jeden Tag lernte er mehr über Durbans Fähigkeiten, sein Wissen und den Respekt, den er sich erworben hatte. Er bewunderte seine Leistungen ebenso, wie sie ihn erschreckten. Ständig hatte er das Gefühl, einen Schritt zu kurz zu treten. Nein, das war eine absurde Untertreibung: Er hinkte meilenweit hinterher!
Mit Menschen und Verbrechen kannte er sich aus. Er vermochte Angst zu riechen, Lügen zu erspüren und zu beurteilen, wann Härte und wann List angebracht war. Was er nicht kannte, waren die Verhaltensweisen, Verstecke und Tricks, die es nur am Fluss gab und nirgendwo sonst; außerdem hatte er es nie verstanden, die Männer, die unter seinem Kommando standen, zu begeistern und ihre Liebe und Treue zu gewinnen. Runcorn konnte das bestätigen! Sie bewunderten Monk für seine Intelligenz, sein Wissen, seine Kraft und fürchteten seine Zunge, aber sie mochten ihn nicht. Und an seiner neuen Stelle wurde ihm nichts von dem bedingungslosen Vertrauen und der Freundschaft entgegengebracht, die er von Anfang an zwischen Durban und seinen Männern gespürt hatte.
Er hatte den Fluss mit einer Fähre überquert – so weit unten gab es keine Brücken mehr. Er lebte jetzt am Südufer; nachdem er die neue Stelle bekommen hatte, war er mit Hester dorthin gezogen. Seine alte Adresse in der Grafton Street wäre zu weit von der Wache in Wapping entfernt gewesen.
Er ging im matten Schein der Straßenlaternen die Paradise Street hinunter. Die Gerüche des Flusses drangen an seine Nase, und vereinzelt dröhnte aus den über das Wasser wehenden Dunstschwaden ein Nebelhorn zu ihm herüber. In der Straße hatte sich auf den flachen Pfützen Eis gebildet. Diese Umgebung war ihm immer noch fremd, nichts war ihm vertraut.
Er steckte den Schlüssel ins Schloss und stieß die Tür auf. »Hester!«
Sie erschien sofort im Flur. Sie hatte sich eine Schürze um die Hüften gebunden und trug das Haar in einem hastig zusammengesteckten, unordentlichen Knoten. In der Hand hielt sie einen Besen, den sie abrupt fallen ließ, als sie Monk erblickte. Sie stürzte ihm entgegen. Schon setzte sie zu einer Bemerkung an, vielleicht zu einer Beschwerde über seine Verspätung, doch dann überlegte sie es sich anders und betrachtete nur sein Gesicht, versuchte zu erkennen, welche Emotionen es zeigte. »Was ist geschehen?«, fragte sie.
Monk wusste, wovor sie Angst hatte. Sie hatte verstanden, aus welchen moralischen und finanziellen Gründen er Durbans Stelle hatte annehmen müssen. Da Callandra nach Wien gezogen war, konnten sie sich nicht länger die Freiheit und auch die Unsicherheit leisten, nur von privaten Aufträgen zu leben. Bisweilen waren die Honorare außerordentlich, allzu häufig aber kärglich. Manche Fälle konnten einfach nicht geklärt werden, oder wenn doch, hatte der Klient oft nur die Mittel für eine äußerst bescheidene Entlohnung. Sie konnten nie vorausplanen, und es gab niemanden mehr, an den sie sich in einem schlechten Monat wenden konnten. Freilich hätten sie in ihrem Alter eigentlich nicht mehr auf Zuwendungen angewiesen sein sollen. Es war Zeit, für sich selbst zu sorgen, anstatt versorgt zu werden.
Natürlich hätte Hester ihre frühere Arbeit wieder aufnehmen können, und wenn es nicht anders gegangen wäre, hätte sie das auch getan. Aber man konnte Kranke nur pflegen, wenn man ständig für sie da war, und dass sie woanders lebte, wollten weder er noch sie. Nach den entsetzlichen Erlebnissen im letzten Jahr brauchte er sie für seinen Seelenfrieden daheim.
»Was ist? Stimmt was nicht?«, setzte sie nach, als er ihr keine Antwort gab.
»Ein Selbstmord an der
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