Das dunkle Labyrinth: Roman
um zu erkennen, dass es nichts gab, und dann weiter in die Tiefe vorzudringen.
Einmal brachen sie zu einem intakten Tunnel durch und konnten etwa zwanzig Meter weitergehen, ehe sie auf einen neuerlichen Erdrutsch stießen und das Graben wieder anfing. Hier fanden sie zwei Gestalten. Ein Mann lebte sogar noch, aber obwohl sie alles taten, um ihm zu helfen, starb er unter ihren Händen, als sie versuchten, ihn herauszuziehen. Seine Verletzungen waren zu schwer, als dass er jemals wieder hätte aufstehen oder gehen können, und doch empfand Monk seinen Tod als bittere Niederlage. Da half es auch nichts, dass sein Verstand ihm sagte, dass diesem Mann schreckliche Qualen und Verzweiflung erspart blieben. Sein Tod hatte etwas Deprimierendes, Endgültiges.
Langsam, mit schmerzenden Gliedern, wandte Monk sich wieder dem Schutthaufen zu. Mit erhobener Laterne leuchtete er die Trümmer ab, aus denen die Glieder des anderen Toten ragten. Er musste zumindest beurteilen, ob er zur Identifizierung und Beerdigung nach oben gebracht werden konnte oder ob schon der bloße Versuch, ihn zu bergen, einen neuerlichen Einsturz mit noch mehr Opfern auslösen würde. Vorsichtig wühlte er sich zu der Leiche durch und beleuchtete die Stelle, wo er den Kopf vermutete. Nach und nach räumte er Ziegel und Mörtel weg, bis er den Oberkörper des Toten freigelegt hatte. Jetzt wäre es wohl nicht mehr zu schwierig oder gefährlich, ihn ganz auszugraben. Die Leiche war über und über mit Lehm und Staub bedeckt, sodass Monk bis auf ein dünnes, kantiges Gesicht und langes Haar kaum etwas erkennen konnte.
Hinter ihm knirschte und polterte loses Erdreich, und der o-beinige Tosher tauchte auf. Seite an Seite arbeiteten sie schweigend weiter. Es dauerte lange, bis sie den Toten befreit hatten und über den Boden des alten Tunnels teils tragen, teils schleifen konnten. Dabei mussten sie durch einen der kleinen Bäche waten, der aus einer Seitenwand sickerte. Das Wasser war eiskalt, aber wenigstens roch es nach Erde und nicht nach Abfall.
Als sie eine trockene Stelle erreichten, kam Monk zum ersten Mal, dazu, das Gesicht des Mannes zu betrachten. Die Frage, wer das sein mochte, erstarb ihm auf den Lippen. Der Bach, durch den sie den Toten geschleift hatten, hatte ihm den Schlamm aus dem Gesicht gewaschen, sodass es jetzt gut zu erkennen war. Dieser Mann hatte ihn erst vor eineinhalb Tagen im Laternenlicht eines anderen Tunnels angestarrt. Das schwarze Haar und die Brauen wie ein Balken quer über die Stirn, dazu die schmale Nase – all das hatte sich unauslöschlich in Monks Bewusstsein geätzt. Mit zitternden Fingern berührte er die Oberlippe des Mannes und schob sie nach oben. Da waren sie, die vorstehenden Eckzähne, einer gewaltiger als der andere. Was für eine makabre Ironie des Schicksals! Sein Versteck war zur tödlichen Falle geworden! Er hatte getötet, damit nicht aufflog, welche Gefahr dieser Bach hier bedeutete, und nun hatte ihn derselbe Bach getötet.
»Wer is’ das?«, fragte der Tosher Monk beunruhigt. »Ich hab ihn schon mal gesehen, kann mich aber nich’ erinnern, wo.«
»Das ist ein Mann, der Menschen für Geld umgebracht hat«, antwortete Monk. »Die Polizei fahndet nach ihm. Ich brauche unbedingt Sergeant Orme. Können Sie jemanden nach oben schicken, der ihn holt? Es ist dringend.«
Der Tosher zuckte mit den Schultern. »Ich geb’s weiter. Wollen Sie ihn hier liegen lassen?«
Monk schüttelte den Kopf. »Ich bleibe so lange bei ihm, bis die Polizei ihn fortschaffen kann.« Plötzlich spürte er, dass seine Füße schon ganz taub waren und er vor Kälte am ganzen Leib schlotterte. Erreichte die Nachricht das Gericht noch rechtzeitig und würde sie eine entscheidende Wende im Prozess bewirken? Zumindest ließe sich beweisen, dass Melisande Ewart sich nichts eingebildet hatte. Aber würde das genügen, um die Geschworenen zu beeindrucken? Oder um Argyll Angst einzujagen?
Er wartete neben der Leiche. Rufe drangen an sein Ohr, und hinter dem Schutthaufen sah er Laternen flackern. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Das Licht fiel gelb auf die schwarzen Oberflächen der Gesteinsbrocken und der Pfützen dazwischen. Der Schemen der gewaltigen Maschine, die sich weiter mit fürchterlichem Getöse durch den Schutt wühlte, ragte in der Düsternis empor wie ein grässliches Fabelwesen, halb Mensch, halb Ungeheuer. Monk war sich nicht sicher, ob ihm seine Einbildung einen Streich spielte, aber es kam ihm so vor, als bohrte sie
Weitere Kostenlose Bücher