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Das dunkle Labyrinth: Roman

Das dunkle Labyrinth: Roman

Titel: Das dunkle Labyrinth: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Feigling!
    Aber nun musste er sich persönlich vergewissern, dass Scuff weiter auf dem Wege der Besserung war. Eigentlich war es absurd, dass ihm das so am Herzen lag. Er hatte keinerlei medizinische Kenntnisse und würde kein bestimmtes Symptom erkennen, solange ihn Hester nicht darauf aufmerksam machte. Es war einfach ein innerer Drang, der ihn zwang, Scuffs Gesicht selbst zu sehen.
    In dem Moment, in dem er die Haustür öffnete, hörte er oben Geräusche. Und er hatte den Flur noch nicht zur Hälfte durchquert, als Licht auf den Treppenabsatz fiel und Hester über ihm erschien. Ihr Haar war offen und vom Schlafen zerzaust, aber sie war noch bekleidet, wenn auch barfuß.
    »William?«, rief sie mit vor Sorge schriller Stimme. Sie stellte keine Fragen, doch in diesem Ausruf war alles enthalten. Und mehr war nicht nötig. Nach all den gemeinsam ausgefochtenen Schlachten und errungenen Siegen verstanden Hester und Monk einander wortlos.
    Er fragte nach Scuff.
    Sie gab ihm die Antwort, bevor er sich erkundigen konnte. »Es wird von Stunde zu Stunde besser mit ihm«, sagte sie, während sie lautlos die Treppe herunterhuschte. »Gegen Mitternacht hatte er ein bisschen Fieber, aber das ist schon wieder gesunken. Es wird noch eine Woche dauern, bis er aufstehen kann, und noch viel länger, bis er in sein eigenes Leben zurückkehren kann. Aber das wird er irgendwann tun können!« Ihre Augen suchten sein Gesicht ab. Sie fragte ihn nicht, ob es schrecklich gewesen war; sie merkte ihm bereits an, was er mitgemacht hatte – an der blassen Haut, den fahrigen Bewegungen, der Tatsache, dass er erst gar nicht versuchte, Worte zu finden.
    Sie wusste weit mehr als er über Schlachtfelder und den Tod, über das albtraumhafte Abschlachten von Menschen. Welche Torheit hatte ihn in unreifen Jahren nur dazu getrieben, sich eine Frau von kindlicher Unschuld zu wünschen, die ihm gehorchte und nie kritische Fragen stellte? Er hatte sich eine Idealfrau ausgemalt, die ihn ohne seine menschlichen Unzulänglichkeiten, Schwächen und Fehlurteile sehen würde. Doch mit einer derart unbedarften Frau würde er nie die Leidenschaften, den Hunger oder die Schmerzen in seinem Leben teilen können. Ein Gespräch von Herz zu Herz wäre einfach nicht möglich gewesen.
    Als Hester den Fuß der Treppe erreichte, schloss er sie wortlos in die Arme und drückte sie fest an sich. Innerlich dankte er dem Schicksal oder dem gütigen höheren Wesen, das ihn dazu geführt hatte, eine Frau zu wählen, deren Schönheit in der Seele lag: tapfer und verletzlich, fröhlich, zornig und weise, eine Frau, die keine langen Erklärungen brauchte.
    Monk konnte sich nicht schlafen legen. Die Zeit reichte gerade, um sich zu waschen, umzuziehen und ein kleines warmes Frühstück einzunehmen. Natürlich ging er auch kurz nach oben, um bei Scuff vorbeizuschauen, der mit sauber gewaschenem Gesicht fest schlief. Der Junge trug immer noch Hesters Nachthemd mit den Spitzen am Ausschnitt, das die dick verbundene linke Schulter entblößte.
     
    Um halb neun saß Monk bei Rathbone in der Kanzlei und berichtete ihm, was in der Nacht geschehen war. Sofort wurde ein Bote losgeschickt, um Runcorn aufzufordern, sich umgehend im Old Bailey einzufinden, sobald er sich mit Melisande Ewart in Verbindung gesetzt und sie gebeten hatte, ebenfalls zur Verhandlung zu erscheinen. Sollte sie sich unwillig zeigen, würde es eine Zwangsvorladung geben.
    Um zehn Uhr war die Verhandlung bereits im Gange, und Rathbone hatte darum gebeten, Monk in den Zeugenstand rufen zu dürfen. Monk staunte darüber, wie steif er war und wie sehr ihn die Füße schmerzten. Er musste sich sogar am Geländer des Zeugenstands festhalten. Das Essen und die frischen Kleider hatten nichts an seiner Erschöpfung ändern können. Die Schulter schmerzte weiterhin, und die grässlichen Erlebnisse der Nacht verfolgten ihn auf Schritt und Tritt.
    Rathbone sah besorgt zu ihm auf. Der Anwalt wirkte so elegant wie immer – makellos gekleidet, das blonde Haar samtweich -, doch seine Augen waren überschattet und seine Lippen farblos und etwas verkniffen. Monk, der ihn gut kannte, bemerkte seine Anspannung. Er wusste, wie nahe Rathbone vor einer Niederlage stand.
    In der ersten Reihe der Zuschauergalerie saß bleich und unglücklich Margaret Ballinger. Ihre Augen wichen keine Sekunde von Monk, auch wenn sie die meiste Zeit nur seinen Rücken oder sein Profil zu sehen bekam.
    »Mr. Monk«, eröffnete Rathbone die Befragung, »würden

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