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Das dunkle Labyrinth: Roman

Das dunkle Labyrinth: Roman

Titel: Das dunkle Labyrinth: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Umrissen informiert, und da die Details nicht klar sind, möchte ich sie lieber nicht wiederholen. Damit will ich Sie auf keinen Fall herabsetzen, Mrs. Monk. Es ist der Respekt vor der Toten, der mir das gebietet. Sie war eine junge Frau von großem Mut, ja, man kann sagen, sie war tollkühn. Obwohl sie einen persönlichen Verlust erlitten hatte und bereit war, ihre Aussichten auf ein glückliches Leben zu opfern, stellte sie die Ehre allem voran, und anscheinend kostete sie das einen schrecklichen Preis. Bitte drängen Sie mich nicht, mehr zu sagen.«
    Doch Hester war es unmöglich, das einfach so hinzunehmen. Sie war in der Lage, wie kaum jemand sonst mitzufühlen, und hatte den Mut und die Leidenschaft, ihre Fähigkeit auch anzuwenden, aber durch Taktgefühl hatte sie sich noch nie hervorgetan – dafür war sie zu temperamentvoll und zu ungeduldig. »Wenn sie die Ehre allem voranstellte, dann ist es umso wichtiger und dringender, dass wir ihr folgen!«, rief sie. »Wie können Sie den Wunsch haben, über sie zu schweigen? Sind Sie denn nicht stolz auf sie? Schulden wir ihr nicht etwas?«
    Er wirkte auf einmal verlegen, jedenfalls schien er um Worte zu ringen. »Mrs. Monk, es gibt Tragödien, die … die … unerklärt bleiben sollten. Ich weiß keinen besseren Ausdruck. Bitte...«
    Wieder hatte sie das gewaltige Loch in der Erde vor Augen. Was, wenn der Tunnel tatsächlich einstürzte? Ihr drehte sich fast der Magen um. Sie stellte sich vor, wie das für die Männer in der Tiefe wäre, wenn sie ohnmächtig mit ansehen mussten, wie die Holzverschalung sich wölbte und schließlich nachgab und ihnen in diesem Moment klar wurde, was geschehen würde. Sie würden beobachten müssen, wie das Wasser Erde und Holz wegsprengte und sich in einer Sturzflut über sie ergoss, sie zerquetschte, zerbrach, in Dreck und Dunkelheit begrub. Dazu sollte sie einfach schweigen?
    »Mr. Applegate, jetzt ist nicht mehr die Zeit, irgendwelche Gefühle zu schonen! Wenn diese Frau sah, was ich heute gesehen habe, und begriff, was den Männern geschehen kann – ja, mit Sicherheit früher oder später geschehen wird -, würde sie sich dann wirklich noch wünschen, dass Sie jetzt, da sie tot ist, auf ihr zartes Wesen Rücksicht nehmen? Ist es nicht das größte Kompliment, der größte Dienst, den man ihr erweisen kann, dass man ihr Anliegen aufgreift?«
    Applegate starrte sie verunsichert an. Er war ein freundlicher Mann, das konnte sie sehen. Seine Augen verrieten ihr aber auch, dass er hin-und hergerissen war zwischen zwei gegensätzlichen Prinzipien.
    Hester bemerkte plötzlich, dass sie sich weit vorgebeugt hatte und ihn fast schon berührte. Widerstrebend lehnte sie sich zurück, doch nicht, um sich zu entschuldigen, sondern weil es wohl die falsche Strategie und in jedem Fall unhöflich war.
    Applegate stand abrupt auf. »Verzeihen Sie bitte«, murmelte er mit rauer Stimme und verließ den Raum.
    Hester war am Boden zerstört. Der Mann war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen, doch jetzt hatte sie ihn allem Anschein nach so sehr in die Enge getrieben, dass er keine Möglichkeit mehr sah, ihr anders zu begegnen als mit einem fluchtartigen Rückzug. Hatte sie wirklich so wenig Einfühlungsvermögen? Trat sie die Erinnerung an eine Frau mit Fü ßen, die er vielleicht geliebt hatte? Wie schrecklich! Und wie dumm!
    Sie war ratlos.
    Dann ging die Tür auf, und eine Frau trat ein. Sie war groß, vielleicht eine Handbreit größer als Hester und genauso schlank. Sie hatte ein ungewöhnliches Gesicht. Auf seine eigene Weise war es schön, doch zeigte es weit mehr als Schönheit, nämlich Heiterkeit und Freude am Leben. Gekleidet war sie in warme graubraune Wolle, die modische schwarze Schattierungen aufwies und ihren weißen Hals auf das Vorteilhafteste betonte.
    Dicht hinter ihr folgte Applegate, der sie Hester als seine Frau Rose vorstellte, um dann erklärend hinzuzufügen: »Wir beide waren sehr von Mary angetan, meine Frau noch mehr als ich. Bevor ich das vertrauliche Schweigen breche, wollte ich erst sie um ihre Meinung bitten.«
    »Guten Tag, Mrs. Monk«, sagte Rose liebenswürdig. »Es ist nett von dir, dass du mich um meine Meinung bittest« – sie bedachte ihren Mann mit einem flüchtigen Blick -, »aber überhaupt nicht nötig. Mit einer Geste bedeutete sie Hester, die bei ihrem Eintreten aufgestanden war, wieder Platz zu nehmen, und setzte sich auf den Stuhl gegenüber. Applegate musste sich einen anderen Stuhl suchen. »Mary ist

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