Das dunkle Labyrinth: Roman
es tat?« Sie stellte sich eine leidenschaftliche junge Frau voller Ideale vor, der eine entsetzliche Entdeckung auf einen Schlag sämtliche Illusionen geraubt hatte. Darunter musste sie schrecklich gelitten haben. Konnte es wirklich sein, dass sie deshalb nicht mehr leben wollte? »War es etwas, das sie über ihn herausgefunden hatte?«, fügte sie hinzu. Sie hätte es lieber nicht gewusst, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. »War es das, was …?«
»O nein!«, rief Rose hastig. »Sie meinen: Hatte sie erfahren, dass Toby beim Tod ihres Vaters die Hände im Spiel hatte? Und dass sie dies nicht ertragen konnte? Ist es das, woran Sie dachten?«
»Ja«, gab Hester zu. »An so etwas könnten selbst sehr starke Menschen zerbrechen.«
»Mary nicht.« Roses Tonfall ließ nicht den geringsten Zweifel zu. Sie saß jetzt mit durchgestrecktem Rücken auf ihrem Stuhl. »Sie war in Toby nicht verliebt, nicht wirklich verliebt. Ohne ihn wäre für sie die Welt nicht untergegangen! Aber sie mochte ihn gern. Sie dachte, dass sein Angebot wohl das beste war, das sie bekommen würde. Wie viele von uns verlieben sich denn schon über beide Ohren in jemanden, den wir dann auch heiraten können?« Sie lächelte, während sie das sagte. Ihre Hände lagen völlig entspannt im Schoß, was Hester verriet, dass sie sich selbst nicht mit einschloss. »Die meisten Frauen machen ein akzeptables Geschäft«, fuhr Rose fort, »und Mary war realistisch genug, um es auch so zu sehen. Darum glauben Sie mir, das Ende ihrer Verlobung stürzte sie nicht in Verzweiflung.« Sie senkte vertraulich die Stimme. »Ich denke sogar, dass sie in mancherlei Hinsicht erleichtert war. Sie konnte ihn guten Gewissens zurückweisen. Schließlich hätte niemand von ihr erwarten können, dass sie so kurz nach dem Tod ihres Vaters heiraten würde, die arme Seele.«
»Meine Liebe, bitte behalte das in Zukunft für dich«, warnte Applegate.
»Das werde ich«, versprach sie, ohne ihre Worte zu bedauern. Mit Hester darüber zu sprechen stellte für sie offenbar eine Ehrenschuld Mary gegenüber dar, und sie war fest entschlossen, der Toten diesen Dienst zu erweisen. »Sie hat sich nicht das Leben genommen, Mrs. Monk. Wenn Sie wüssten, wie leidenschaftlich sie daran glaubte, dass ihr Vater das ebenso wenig getan hat, und dass er zu so etwas nie bereit gewesen wäre! Nicht nur, weil es gegen seinen Glauben verstieß und eine Sünde gegen die Kirche gewesen wäre, sondern auch, was noch viel schwerer wog, eine Sünde gegen ihn selbst. Es wäre ein Akt der Feigheit gewesen, ein Verrat an seiner persönlichen Integrität und seiner Verpflichtung zur Ehrenhaftigkeit. Und wenn das für ihn galt, muss es im gleichen Maße auch für sie gegolten haben. Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihnen dabei zu helfen, es herauszufinden. Ich will Ihnen jede Information geben, die ich erhalten kann, Ihnen jede Tür öffnen, die mir zugänglich ist – Sie brauchen es mir nur zu sagen. Vielleicht gelingt es uns doch noch, die Reform herbeizuführen, auf die Mary hinarbeitete, und wenigstens ein paar Männern das Leben zu retten, die mit Sicherheit sterben würden, wenn es noch mehr Bauunfälle gibt.«
»Danke!«, rief Hester bewegt. »Ich werde mich an Sie wenden, sobald ich eine genauere Vorstellung von meinen nächsten Schritten habe.« Sie wandte sich an Applegate. »Was wollte Ihnen Mary Havilland mitteilen? Was müssen Sie wissen, bevor Sie handeln können?«
»Ich brauche einen Beweis, dass die Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten werden. Aber ich fürchte, der wird schwer zu erbringen sein. Die Ingenieure werden behaupten, dass sie den Boden und die unterirdischen Quellen, Bäche und Flüsse gründlich vermessen haben. Männer, die mit Maschinen arbeiten, sind an die Gefahr gewöhnt und wissen, dass sie bis zu einem bestimmten Grad zum Leben gehört. Das ist nicht anders als bei den Seefahrern oder den Bergwerkarbeitern. Sie alle leben ständig mit der Gefahr und dem Tod. Die Navvys – das sind die Kanalarbeiter – übrigens nicht minder. Sich zu widersetzen oder sich selbst zu bemitleiden, wäre für sie die reine Feigheit. Wer sich das leistet, wird von allen verachtet. Schlimmer noch, er wäre im Handumdrehen seine Arbeit los, denn auf jeden, der etwas verweigert, kommen zehn, die ihn sofort ersetzen. Seine Familie müsste verhungern. Das wissen sie genau, und darum gehorchen sie.«
»Und verlieren ihre Arme oder
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