Das dunkle Labyrinth: Roman
regelrecht gefrieren. Bei diesem Wetter musste der Bootsmann nicht nur seine ganze Kraft, sondern auch viel Geschick aufbieten, damit die Ruderblätter nicht flach aufs Wasser klatschten und sie beide durchnässt wurden.
Wenigstens hatte der Wind den Nebel vertrieben, und man konnte eine lange Kette von Barken mit der Tide flussabwärts gleiten sehen, die von London aus die ganze Welt mit Waren versorgten.
In seinem Gespräch mit Hester hatte er Sorgen um ihre Sicherheit anklingen lassen. Und nicht ohne Grund. Er wollte sie nicht daran hindern, Dinge zu tun, die ihrer Überzeugung nach richtig waren, aber immer wenn sie sich einem Anliegen verschrieb, verlor sie schnell den Sinn für jede Verhältnismä ßigkeit. Mehr als einmal hatte sie sich damit in Gefahr gebracht, und im letzten Herbst hatte es sie sogar fast das Leben gekostet. Er konnte und würde nicht zulassen, dass das noch einmal geschah. Beim bloßen Gedanken daran überlief es ihn eiskalt. War es etwa zu viel verlangt, dass sie sich seinen Wünschen fügte?
Er sah auf das brodelnde dunkle, schmutzige Wasser hinab. Wenn er sich nur wieder an seine Jugend erinnern könnte, an seine früheren Erfahrungen mit Frauen, mit Liebe, vielleicht hätte er dann ein besseres Gefühl für diese Dinge. Doch sein Gedächtnis gab nichts preis, und er wollte Hester ja genau so, wie sie war: naiv, vorschnell, stur, leidenschaftlich, eigenwillig, treu, bisweilen töricht, immer aufrichtig – sogar zu aufrichtig -, nie kleinkrämerisch und unter keinen Umständen feige. Aber er wollte sie lebendig, und wenn sie nicht so vernünftig war, sich selbst zu schützen, dann musste eben er das für sie tun.
Er hatte die feste Absicht herauszufinden, was Mary Havilland und ihrem Vater geschehen war, weil Hester ihn sonst verachten würde.
Wie war es ihr vor sieben Jahren beim Selbstmord ihres Vaters ergangen? Er hatte sie damals gerade kennen gelernt, und sie hatten einander erbittert angefeindet. Sie hatte ihn als kalt und überheblich empfunden. Vielleicht war er das auch gewesen, aber nach seinem totalen Gedächtnisverlust hatte ihn die unbekannte Welt um ihn herum völlig verunsichert, während ihm gleichzeitig immer schmerzhafter bewusst wurde, wie unbeliebt er war, und ihn – was das Schlimmste war – das Entsetzen über seine eigene Schuld an Joscelyn Grays Tod wie ein Albtraum verfolgte. Hesters Kraft und Mut waren es gewesen, die ihn gerettet und die trotz der zunehmend gegen ihn sprechenden Indizien seine Hoffnung am Leben gehalten hatten.
Hatte Hester sich schuldig gefühlt, dass sie nicht zu Hause war, als ihre Eltern sie so verzweifelt brauchten? War das der Grund dafür, dass sie jetzt so fest entschlossen war, für Mary Havilland und damit indirekt auch für deren Vater zu kämpfen?
Daran hatte er bisher noch gar nicht gedacht.
Sie legten am Ufer von Wapping an. Er bezahlte den Fährmann, erklomm die Stufen zum Damm, wo ihm sofort ein noch heftigerer Wind entgegenschlug, und eilte zur Wache. Die Stube war geheizt, aber es dauerte eine ganze Weile, bis die Wärme sein betäubtes Fleisch auftaute. Seine Hände kribbelten, als das Blut wieder in Bewegung kam, und er registrierte, dass die Beamten beim Wachwechsel schwere Mäntel anzogen und Mützen aufsetzten, bevor sie ins Patrouillenboot stiegen.
Er nahm kurz den Bericht der Streifenpolizisten ab: zwei Raubüberfälle, mehrere Schlägereien, von denen eine zu einer Messerstecherei ausgeartet war. Das Opfer war gestorben, aber sie hatten den Täter. Offenbar war dieses Verbrechen der Höhepunkt einer langen Fehde gewesen.
»War noch jemand anderes daran beteiligt?«, fragte Monk.
Clacton bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick, der kalte Verachtung ausdrückte. Monk bemerkte sogleich seinen Fehler. Er behandelte Clacton wie einen Gleichrangigen, so wie er auch mit Orme umging. Clacton war aber auf einen Kampf aus, stocherte unablässig herum, bis er eine Schwäche fand, in die er hineinstoßen konnte. Monk bezähmte seine Wut nur mit Mühe. Ein Mann, der sich einem Untergebenen gegenüber nicht im Griff hatte, eignete sich nicht zum Kommandanten. Niemand durfte ihn manipulieren. Genauso wenig durften die anderen sehen, dass er auf Ormes Hilfe angewiesen war. Er war allein. Orme wollte seinen Erfolg, Clacton wollte sein Scheitern. Keinem konnte er Durban ersetzen. Das störte ihn auch nicht weiter, denn er musste sich seine eigene Position schaffen. Abgesehen davon bewunderte keiner Durban mehr als er. Er
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