Das dunkle Labyrinth: Roman
vorher zurechtgelegt. »Natürlich, aber sie haben ein übermächtiges Interesse daran, eine möglichst geringe Anzahl von Verletzten bekannt zu geben. Zwischen der Einschätzung eines Ingenieurs und der eines Arztes ist allerdings ein himmelweiter Unterschied.«
»Gewiss. Setzen Sie sich doch bitte, Mrs. Applegate. Und Miss … Mrs. …?« Er machte eine einladende Geste, ohne Hester anzusehen.
»Wir brauchten Details.« Rose setzte sich kerzengerade auf den ihr angebotenen Stuhl und lächelte ihn an. »Beschreibungen erlittener Verletzungen und die Namen der Betroffenen, damit für jeden ersichtlich wird, dass wir die Angelegenheit gründlich untersucht haben.«
Lambs Züge verrieten äußerstes Unbehagen.
Rose wartete mit gespannter Miene, die Augen groß und rund, den Mund zu einem halben Lächeln geöffnet, bereit, dem Arzt ein Strahlen zu schenken, falls er ihr diesen Wunsch erfüllte. »Eine möglichst vollständige Liste«, fuhr sie fort. »Es soll schließlich nicht der Eindruck entstehen, wir würden bestimmte Firmen herauspicken. Das würde nicht helfen.«
Widerstrebend zog Lamb einen kleinen Schlüssel aus der Westentasche, erhob sich und öffnete einen Aktenschrank, um aus einer Schublade einen Ordner mit Dokumenten zu ziehen. Damit kehrte er zum Schreibtisch zurück und las Abschnitte aus einigen Akten vor. Dann ließ er die Unterlagen sinken und sah Rose fragend an. »Mir will nur nicht in den Kopf, welchen Nutzen sich die Abgeordneten davon versprechen«, seufzte er.
Er hatte Unfälle und Verletzungen mit belanglosen Begriffen umschrieben, wie sie Laien benutzen würden, und harmloser dargestellt, als sie tatsächlich waren. Rose merkte vielleicht nicht, dass er ihren Fragen auswich, Hester dagegen sehr wohl. Zum ersten Mal meldete sie sich zu Wort.
»Es gab den Fall eines gewissen Albert Vincent. Sein rechtes Bein wurde von einem umstürzenden Wagen zermalmt, und Sie haben, glaube ich, etwas von einem doppelten Oberschenkelbruch gesagt.«
»Das ist richtig.« Er sah sie stirnrunzelnd an. Es schien ihn zu verblüffen, dass sie überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Bis dahin hatte er sie lediglich für eine Begleiterin oder vielleicht für ein Dienstmädchen gehalten.
»Sie haben nicht erwähnt, wie er behandelt wurde. Liegt das daran, dass er starb?«
»Starb?« Er starrte sie entsetzt an. »Wie, um alles auf der Welt, kommen sie darauf, Mrs. …?«
»Mrs. Monk«, half sie ihm. »Weil aus Ihrer Beschreibung hervorgehen könnte, dass die Schlagader zerfetzt wurde. In diesem Fall wäre er binnen Minuten verblutet. Wenn hingegen jemand vor Ort gewesen wäre, der das Bein amputierte, wäre das doch gewiss erwähnt worden?«
Er verlor sichtlich die Fassung. »Die Details sind hier nicht vermerkt, junge Frau, und ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie sich mit so etwas auskennen, selbst wenn Sie sich das eine oder andere angelesen haben könnten und mit Worten um sich werfen, als hätten sie es verstanden.«
»Oh, sie versteht es durchaus«, sagte Rose mit einem süßen Lächeln. »Mrs. Monk war zusammen mit Miss Nightingale auf der Krim. Sie ist mit Operationen auf dem Schlachtfeld vertraut, und das unter widrigsten Umständen.«
Er lief vor Zorn puterrot an. »Das haben Sie mir nicht gesagt! Das ist, wenn ich so offen sein darf, äußerst unredlich von Ihnen!«
»Ach, wirklich?«, fragte Rose unschuldig. »Das tut mir schrecklich leid. Ich hatte gedacht, Sie würden ungeachtet der Person, mit der Sie sprechen, stets dieselben Fakten berichten. Wäre Mrs. Monk zart besaitet gewesen und beim geringsten Anlass in Ohnmacht gefallen, hätte ich sie nicht mitgebracht. Aber mit ihr verhält es sich eben ganz anders. Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie anders formuliert hätten, hätten Sie gewusst, dass Mrs. Monk große Erfahrung mit solchen furchtbaren und tragischen Geschehen hat.«
Er funkelte sie wütend an, sah aber offenbar keine Rettung aus der Grube, die er sich selbst gegraben hatte.
Rose lächelte weiter. »Vielen Dank«, sagte sie noch einmal. »Lassen Sie mich bitte ein paar Notizen machen, damit uns später niemand einen Fehler vorwerfen kann. Es wäre doch schrecklich, Zahlen anzuführen, die nicht zutreffen. Und höchst peinlich.« Sie sah ihn unverwandt an. Er presste die Lippen aufeinander, widersprach aber nicht.
Draußen auf den Stufen, wo der Wind an ihren Röcken zerrte, schien der Sieg bereits wieder zu verblassen. Rose wandte sich zu Hester um. »Was machen wir
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