Das dunkle Netz der Lügen
hinübergefahren.» Hektisch holte Kramer seine Liste hervor. «So etwa gegen elf Uhr.»
«Und wann kommt er gewöhnlich zurück?», wollte Robert wissen.
«Nun, meist fährt er erst später hinüber, so um zwei Uhr …»
«Also nach dem Ende seines Unterrichts», murmelte Robert. «Und wann genau kommt er zurück?»
«Meist abends gegen halb sechs.»
«Danke, Kramer!», sagte Robert. «Machen Sie sich keine Gedanken. Ich werde mich persönlich um Herrn Schmitz kümmern.»
Ebel sah ihn fragend an.
«Ich habe da so eine Vermutung, dass es sich bei diesem Herrn Schmitz um meinen Neffen Emil handeln könnte», erklärte Robert. «Aber das kann ich ja heute Nachmittag herausfinden.»
Emil hatte seine Mutter schon mehrmals in Duisburg besucht und jedes Mal großes Glück an der Fähre gehabt. Er hatte schnell begriffen, dass der Zylinder und die Aktenmappe unterm Arm halfen, unbehelligt an Bord zu kommen. Viele der Passagiere waren Angestellte der angesehenen Firmen, die Botengänge machten oder auf dem Weg in die Büros waren. Der richtige Aufzug machte aus einem Ausreißer einen braven Bürger.
Heute würde er länger in Duisburg bleiben können. Dem Hauslehrer hatte er einfach gesagt, dass seine ganze Familie zur Beerdigung von Elise von Sannberg gehen würde – außer seinem jüngeren Bruder natürlich. Niemand würde ihn also dort vermissen.
Ein Bauer, der auf seinem Fuhrwerk Gemüse transportierte, nahm ihn bis in die Stadt mit, und den Weg zur Wallstraße fand er inzwischen sehr schnell.
Allerdings waren beide Zimmer seiner Mutter verschlossen. Hatte sie etwa vergessen, dass er kommen wollte? Missmutig setzte sich Emil auf die Treppe. Nun hatten sie endlich mal Gelegenheit, länger zusammen zu sein, und Mina war nicht da.
Nach einiger Zeit ging hinten im Flur eine Tür auf. Die junge blonde Frau, die Emil bei seinem ersten Besuch zu seiner Mutter gebracht hatte, verabschiedete einen gutgekleideten Herrn. Emil konnte sehen, dass er ihr etwas in die Hand drückte, bevor er an ihm vorbei über die Treppe zum Ausgang lief.
Die Frau entdeckte Emil auf der Treppe und kam herüber. Er sah, wie sie etwas in ihr Mieder steckte. Im Gehen band sie ihren dünnen seidenen Morgenrock zu.
«Du bist doch der Sohn von der Mina, nicht wahr?», fragte sie. Emil starrte auf ihre nackten Beine, die Füße steckten in zierlichen Pantöffelchen. Keine Frau, die er kannte, war mittags noch im Schlafrock.
«Deine Mutter ist nicht da», sagte die Frau. «Sie ist heute Morgen ausgegangen.»
«Wann kommt sie denn wieder?», fragte Emil enttäuscht.
«Ich weiß nicht. Möchtest du bei mir auf sie warten? Ich habe Zeit heute Nachmittag.»
Emil überlegte kurz, dann nickte er. Wenn seine Mutter bald zurückkam, hätten sie zumindest noch ein paar Stunden miteinander.
«Ich bin die Pepi, aber wir kennen uns ja schon.»
Emil folgte dem Mädchen in ihr Zimmer. Es war einfach eingerichtet, aber recht geräumig. Pepi hatte offensichtlich versucht, es ein wenig wohnlicher zu machen, und ein Stück blauen Stoff über dem Bett zu einem Himmel drapiert. Die schweren Samtvorhänge waren zugezogen. Pepi löschte die Kerzen, die auf einem kleinen Tisch standen, und zog die Vorhänge auf.
«Setz dich!», forderte sie Emil auf.
Der nahm sich brav einen Stuhl. Pepi schüttelte die Kissen ihres Bettes auf und legte die Tagesdecke darüber. Dann setzte sie sich darauf und lehnte sich an die Wand. Ihr Morgenrockging auseinander und gab den Blick auf eine festgeschnürte Korsage frei.
«Magst du etwas trinken?», fragte sie den Jungen.
Emil nickte.
«Da steht was, gieß dir ein. Die Gläser sind unbenutzt.»
Vor ihm stand eine Flasche ohne Etikett. Er nahm eines der Gläser und goss sich ein. Die glasklare Flüssigkeit verbreitete einen scharfen Geruch mit einer Spur von Himbeeren.
«Halt, halt!», rief Pepi. «Das ist genug. Das ist Himbeergeist, kennst du das nicht?»
«Nein.» Emil nahm einen kräftigen Schluck aus dem halbgefüllten Wasserglas. Brennend lief ihm das Obstwasser durch die Kehle. Er begann zu husten und stellte das Glas schnell wieder auf den Tisch, um nichts zu verschütten.
Pepi lachte.
«Der ist gut», sagte Emil zwischen zwei Hustenanfällen. Als Pepi noch mehr lachte, griff er wieder zum Glas und nahm noch einen Schluck, vorsichtiger diesmal, aber immer noch so, dass sie ihn nicht für feige halten konnte.
«Langsam, Kleiner. Der steigt ganz schnell in den Kopf und in die Beine. Zu Hause bekommst du
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