Das dunkle Netz der Lügen
Jungen grob das Gesicht und die Haare ab. Emil schien schon wieder etwas nüchterner zu sein. Dann knöpfte er dem Jungen das Hemd ordentlich zu. «Emil …», sagte er mit einschmeichelnder Stimme.
Der Junge zuckte zusammen, denn plötzlich hatte Kellerer ein Messer in der Hand. «Ich liebe deine Mutter, und ich möchte ihr keinen Kummer machen. Siehst du das Messer?»
Emil nickte.
«Es ist sehr scharf. Ich könnte dir jetzt drohen, dass ich dich umbringe, wenn du etwas erzählst.»
«Ich … ich werde nichts erzählen …»
«Und ich werde dich nicht umbringen, weil ich das deiner Mutter nicht antun könnte. Aber nichts könnte mich davon abhalten, dir deinen kleinen Freund abzuschneiden, von dem du noch gar nicht weißt, wozu er nütze ist.» Er wanderte mit dem Messer hinunter zu Emils Hose. «Haben wir uns verstanden?»
Emil nickte noch einmal.
«Jetzt leg das Messer weg, Mathis.» Mina ging zu Emil und nahm ihn in den Arm. «Er wird dir nichts tun, mein Junge. Aber wenn du irgendjemand davon erzählst, was heute hier vorgefallen ist, oder jemand merkt, dass du betrunken bist, dann habe ich meine letzte Chance vor Gericht verspielt, verstehst du?»
«Ja, Mutter.»
Sie holte einen Kamm und zog ihm einen ordentlichen Scheitel. Dann kam Pepi mit dem Kaffee. Mina goss Emil eine Tasse ein, und er musste ihn schwarz trinken und gleich noch eine zweite hinterher.
Die Uhr der Salvatorkirche schlug sechs. Emil sprang auf. «Ich muss zurück, ich bin schon eine ganze Stunde zu spät.»
Er suchte nach seinem Zylinder und der Aktenmappe, und Pepi lief, um sie aus ihrem Zimmer zu holen. Wenigstensschwankte er nicht mehr, so viel hatte Mathis erreicht. Sie umarmte ihn. «Nächste Woche ist der Prozess. Bis dahin darfst du nicht mehr herkommen.»
«Ja, Mutter», sagte Emil mit gesenktem Blick und machte sich dann auf den Weg – deutlich darum bemüht, gerade zu gehen. Er sah gerade noch, wie Pepi in ihr Mieder griff und Kellerer ein paar Münzen gab.
Seit dem späten Nachmittag stand eine geschlossene einspännige Kutsche in der Nähe des Fähranlegers nach Duisburg. Es war die Kutsche der Familie Messmer, die Commissar Robert Borghoff sich ausgeliehen hatte, um unbemerkt die mit der Fähre ankommenden Passagiere beobachten zu können.
Unten am Anleger machte Polizeidiener Kramer seine Arbeit. Bei jedem Anlanden der Fähre beobachtete er die Ankommenden, notierte sich ihre Namen, winkte viele durch und befahl anderen zu warten. Wenn das Schiff mit den neuen Fahrgästen wieder ablegte, widmete er sich denen, die er aussortiert hatte, schrieb hinter die Namen Berufe, was sie in Ruhrort vorhatten oder wo sie unterzukommen gedachten.
Ihm war sichtlich unbehaglich, weil er wusste, dass der Commissar ihn beobachtete. Borghoff hatte zwar mehrmals deutlich gesagt, dass er nichts falsch gemacht hatte, trotzdem wirkte er nervöser als sonst.
Jetzt am Abend wurde die Schlange der Wartenden endlich etwas kleiner, die Zahl der Fahrgäste würde nur noch einmal ansteigen, wenn die Betriebe in Kaßlerfeld, Hochfeld und der Phoenix in Laar Schichtwechsel hatten. So hatte er die kleine Gruppe bereits kontrolliert, als das Schiff anlegte. Sein bereits geübter Blick schweifte über die Fahrgäste, die sich schon am Ausgang sammelten. Unter ihnen entdeckte er jenen jungen Mann, den er als Schreiber Hans Schmitz inzwischen regelmäßig durchgewunken hatte.
Wie Borghoff ihm befohlen hatte, tat er das diesmal auch. Unbehelligt verließ der junge Mann die Anlegestelle. Er sah sich um, wohl um eine Mitfahrgelegenheit in die Stadt zu bekommen, doch außer einem Ochsenkarren, auf dem man nicht sitzen konnte, gab es kein Gefährt.
Borghoff wies Polizeidiener Wacker, der in Zivil als Kutscher fungierte, an, zurück nach Ruhrort zu fahren. Als sie neben dem Zylinderträger mit der Aktenmappe angekommen waren, hielt er an. Robert öffnete die Tür. «Möchten Sie mitfahren?», fragte er.
«Gern», antwortete der junge Mann, dann sah er, wer ihn angesprochen hatte. Einen Augenblick schien er zu überlegen, ob er fliehen sollte.
«Steig ein, Emil», sagte Borghoff ruhig.
Emil hatte Schwierigkeiten, in die Kutsche zu klettern.
«Du bist betrunken», stellte der Commissar fest. «Wo bist du gewesen?»
«In Duisburg.» Es hatte keinen Zweck, das zu leugnen, wenn sein Onkel ihn schon an der Fähre beobachtet hatte.
Robert steckte seinen Kopf aus dem Fenster und rief dem Polizeidiener zu: «Fahren Sie langsam, wir haben
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