Das dunkle Netz der Lügen
über dem Haushaltsbuch saß. Finchen, die genau wusste, was Lina beschäftigte, weil sie selbst immerzu an den Baron denken musste, nickte ihr aufmunternd zu.
Lina war gerade aus dem Haus, da ging die Glocke an der Tür des Stoffladens. Christian war im Lager beschäftigt, das wusste Finchen. «Ich sehe nach», sagte sie zu Antonie und ging nach vorn.
Doch es war kein Kunde, der da hereingekommen war. «Simon …», flüsterte Finchen. Sie dachte kurz daran, wegzulaufen, nach hinten, wo Christian ihr vielleicht helfen konnte, aber sie spürte deutlich, dass ihre Knie so weich waren, dass sie es nie schaffen konnte, bevor er sie eingeholt hatte. Deshalb stellte sie sich hinter die Ladentheke.
«Guten Tag, Finchen.» Simon sah noch zerlumpter aus als beim letzten Mal. Er war schmal geworden, und die Augen lagen tief in den Höhlen. Er humpelte immer noch, denn der verletzte Fuß war nicht behandelt worden.
Seine Glückssträhne hatte nicht sehr lange angehalten, und seinen letzten Groschen hatte er auf der Fähre ausgegeben. Eigentlichwäre es ihm sogar egal gewesen, wenn die Polizei ihn gleich am Anleger festgenommen hätte. Im Gefängnis hätte er vielleicht etwas zu essen bekommen.
«Bitte, du brauchst keine Angst zu haben …» Er kam einen Schritt näher, aber Finchen, die das Ladenregal im Rücken spürte, streckte ihren gesunden Arm aus.
«Bleib, wo du bist, sonst schreie ich!»
«Finchen, hast du etwas zu essen für mich?»
Sie sah ihn an, und er blickte auf den Boden, so sehr schämte er sich. «Bitte, Finchen. Nur ein Stück Brot, und dann gehe ich wieder.»
«Antonie!», rief Finchen. Wenig später stand sie im Laden. «Was will der hier? Soll ich Dietrich holen?»
«Nein, bring bitte etwas zu essen aus der Küche. Und dann wird Simon wieder gehen. Aber sorg dafür, dass keines der Kinder ihn sieht!»
Antonie nickte. Wenig später kam sie mit zwei Wurstbroten zurück. Auch einen Becher Milch stellte sie auf die Ladentheke.
Schweigend sahen die beiden Frauen zu, wie Simon die Schnitten gierig verschlang. Als er die Milch getrunken hatte, sagte Finchen: «Jetzt kannst du verschwinden. Und das war das letzte Mal, Simon. Hier bekommst du nichts mehr.»
Er nickte nur, dann hinkte er zum Ausgang. «Danke», sagte er leise. Er öffnete die Tür, doch dann drehte er sich noch einmal um. «Finchen, bitte, nimm mich wieder auf. Ich … ich habe mich geändert. Ich werde nicht mehr spielen und hart arbeiten, das verspreche ich dir. Wenn dieser verdammte Fuß wieder gesund ist, gehe ich auf den Phoenix … Ich bin müde, Finchen. Ich brauche ein Bett und ein Dach über dem Kopf.»
«Du hast gesagt, wenn du etwas zu essen bekommst, gehst du wieder.» Finchen versuchte ruhig zu bleiben.
«Ich gehe und hole Dietrich her», sagte Antonie.
«Nein, nein, ich gehe schon.» Simon hatte Mühe, die drei Stufen hinunterzukommen. Antonie eilte zur Tür und verschloss sie. Sie sah Simon mühsam die Straße hinunterhinken.
«Antonie, ich werde zum Commissar gehen und ihm sagen, dass er wieder hier in Ruhrort ist», sagte Finchen, aber Antonie schüttelte heftig den Kopf. «Wir schicken Dietrich. Der braucht wenigstens keine Angst vor ihm zu haben.»
«Ich denke fast, so wie er aussieht, braucht niemand Angst zu haben», sagte Finchen leise. «Aber du hast recht, Dietrich soll gehen.»
Die Stimmung im Hause Messmer war natürlich keinen Deut besser. Beatrice hatte den ganzen Morgen nur geweint, bis ihre Schwiegermutter sie überreden konnte, sich hinzulegen.
Guste und Lina zogen sich in das Damenzimmer zurück, in dem auch der Baron übernachtet hatte. «Ich werde fast verrückt, wenn ich daran denke, was mit dem armen Cornelius geschieht», sagte Guste. «Egal, was die Leute erzählen oder was die Polizei dazu sagt, ich glaube nicht, dass er es getan hat.»
«Nicht einmal Robert glaubt das.» Lina setzte sich. «Aber ihm sind die Hände gebunden.»
«Wenn es erst zum Prozess kommt, werden sich noch mehr Leute von ihm abwenden. Stell dir vor, Beatrice wurde heute von einigen Damen nicht gegrüßt. Eberhard überlegt bereits, von hier fortzugehen.»
Gustes Köchin Doris kam herauf und brachte Tee. Während Lina in ihrer Tasse rührte, betrachtete sie das Portrait von Maria Messmer. Und tatsächlich, dort auf dem Tisch neben ihr stand, wie Robert es berichtet hatte, das kleine Holzkästchen.
«Was ist eigentlich aus dem Holzkästchen auf dem Bild geworden, hat Bertram es noch?», fragte
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