Das dunkle Netz der Lügen
loswerden. Sie löste sich aus der Menge, war bald an der Kasteelstraße und bog rasch in eine der engeren Straßen ein. Hier begann sie, kreuz und quer durch die Gassen zu laufen. Wann immer sie abbog, versuchte sie schnell die nächste Ecke zu erreichen, aber erst beim dritten oder vierten Mal gelang es ihr. Verborgen in einer engen Nische zwischen zwei Häusern, konnte sie beobachten, wie er vorbeilief. Sie beschloss, bis zum Abend dort zu bleiben.
Polizeidiener Schröder saß mit hochrotem Kopf vor Commissar Borghoff und beichtete, dass er Zita verloren hatte.
«Sie muss mich bemerkt haben. Auf einmal schlug sie einen Haken nach dem anderen, und dann war sie weg.»
«Wenn sie weiß, dass sie beschattet wird, wird sie uns ohnehin nicht mehr zu den Dieben führen. Wahrscheinlich wird sie die Stadt jetzt schnell verlassen wollen», sagte Robert. «Wirverstärken die Kontrollen an den Fähren und am Bahnhof. Sie hat noch etwas Geld, vielleicht nimmt sie den Zug.»
Er sah Schröder an, der ganz unglücklich vor ihm hockte. «Machen Sie sich keine Sorgen, Schröder, das hätte jedem von uns passieren können in der Altstadt.»
«Aber jetzt stehen wir wieder ganz am Anfang!», sagte Schröder, sichtlich unzufrieden mit sich selbst.
Sergeant Recke, der seinen Dienst am Nachmittag begonnen hatte, kam gerade mit einem weiteren Polizeidiener herein.
«Irgendeine Spur von meinem Neffen oder meiner Nichte?», fragte Robert.
«Nichts», sagte Recke. «Wir waren an allen Kontrollpunkten. Sie haben die Stadt nicht verlassen.»
«Es sei denn, sie wollten unentdeckt bleiben. Emil macht das ja nicht zum ersten Mal.»
Robert ballte die Faust. Die Dinge liefen leider gar nicht gut.
Lina machte sich langsam Sorgen. Aaltje hatte schon ein paarmal nach Carolinchen gefragt, und bisher hatte sie ihr gesagt, dass sie mit Oskar draußen spielen würde – aber auch das war nicht unbedingt dazu angetan, Aaltje zu beruhigen, denn schließlich kannten alle die Spiele der beiden Racker.
Lina hatte auch Josef und danach Karl beiseitegenommen und ihn gefragt, ob Emil ihm gesagt hatte, was er plante. In Linas Haus teilten sie sich ja ein Zimmer.
Josef bestätigte ihr nur noch einmal Emils Sinneswandel, was die Mutter betraf. «Sie war da, an der Schule, er hat es mir erzählt.»
Er berichtete, was sein Bruder ihm gesagt hatte. «Sie muss sehr wütend gewesen sein.»
Karl verstand sich nicht so gut mit Emil, ihm hatte sich derJunge auf keinen Fall anvertraut. «Aber er hat kein Geld eingesteckt heute Morgen. Ich weiß, wo er es aufbewahrt.»
Lina hatte ihre Näherinnen eine Stunde früher nach Hause geschickt, ein Lohnverlust, den sie noch verkraften konnten. Jetzt saß sie im Büro und rechnete, wie lange sie ohne Entlassungen über die Runden kommen würde, wenn weiter keine Aufträge hereinkamen.
Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie vor Schreck zusammenzuckte, als es unsanft gegen die Tür klopfte. Überrascht sah sie, dass es Rose war. Das Dienstmädchen schien völlig außer sich.
«Was ist geschehen, Rose?»
«Hier …» Sie hielt Lina einen Brief hin. «Ich wollte es schnell hinter mich bringen, das Schlafzimmer von Frau von Sannberg ausräumen zu lassen. Der Raum ist mir unheimlich.»
Lina kannte die Schrift auf dem Brief nicht und schaute Rose fragend an.
«Die Männer haben die Waschkommode von der Wand gerückt, und dann war da plötzlich dieser Brief. Er muss dahinter gerutscht sein. Lesen Sie nur! Der Baron …»
«Ja, Rose, ich sehe es.» Sie las den Brief, den sie gerade überflogen hatte, noch einmal Wort für Wort.
Meine geliebte Elise,
bitte verzeih, dass ich Dich immer noch so nenne, aber meine Liebe zu Dir ist nicht erloschen wie Deine, wie Du so hartnäckig behauptest.
Ich werde Deinem Wunsch entsprechen und meine Stelle kündigen. Aber dafür verlange ich von Dir, Dich ein letztes Mal im Arm halten zu dürfen, ein letztes Mal Deine Leidenschaft zu spüren. Nach so vielen Jahren denke ich, ich habe einen würdigeren Abschied verdient, als Du mir zugedacht hast. Ich würde keinen Augenblick zögern, Deinem Mann von unserer langen
Verbindung zu erzählen. Also überlege Dir gut, ob es klug wäre, mich zurückzuweisen.
Sieh zu, dass Du und der Baron den Maiball frühzeitig verlasst. Mit diesem Brief sende ich Dir ein Schlafpulver, das Du Deinem Mann in seinen abendlichen Rotwein geben kannst. Wenn er tief und fest schläft, dann komme ich zu Dir, und wir werden eine letzte Nacht
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